Institutsreihen - Überlegungen am Beispiel der "Materialien" des Instituts für Kulturgeographie, Stadt- und Regionalforschung (KSR) der J.W. Goethe-Universität

Neben Festschriften sind Institutsreihen wohl diejenige Veröffentlichungsform, die von den Anhängern eines formal definierten Qualitätsmanagements besonders argwöhnisch betrachtet werden: kein aus "anerkannten Wissenschaftlern" gebildetes "editorial board", kein "peer reviewing" und was so an weiteren Kriterien aufgefahren wird, um die Adelung zur "anerkannten Publikation" abzusichern.

Diese Selbstsicherheit, ein formal einwandfreies Verfahren zur wissenschaftlichen Qualitätssicherung gefunden zu haben, ist in letzter Zeit jedoch nicht nur durch zahlreiche Skandale um gefälschte Daten (z. B. in der Medizin) oder bewusst unsinnige Argumente (vgl. die Sokal-Affäre) erschüttert worden. Noch gravierender sind prinzipielle Einwände, die das Begutachtungssystem als ursächlich für retardierende Momente der Wissenschaftsentwicklung ansehen, ist doch der Beteiligung zahlreicher Gutachter, Herausgeber etc. mit ihren jeweils eigenen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Interessen eine immanente Tendenz zur Bevorzugung des Status Quo zu eigen (vgl. a. www.bmjpg.co.uk/publicationethics/cope/contents. htm).
Angesichts dieser inzwischen allgemein bekannten und daher hier nur angedeuteten strukturellen Probleme der "anerkannten Publikationen" stellt sich die Frage, ob und inwieweit die aus dem herkömmlichen Blickwinkel minderwertigen Veröffentlichungsformen eine Alternative bieten können, unterliegen sie doch nicht dem umfassenden Zugriff der "scientific community", sondern eröffnen durch die geringeren Kontrollmechanismen auch eher unkonventionellen wissenschaftlichen Aktivitäten die Chance einer Publikation. Für Institutsreihen gilt darüber hinaus, dass sie auch die Kooperationsfähigkeiten innerhalb eines Instituts und damit ein immer wichtiger werdendes Element wissenschaftlichen Arbeitens reflektieren könne.  
Diese Potenziale, die Institutsreihen (und anderen Veröffentlichungsformen) zugeschrieben werden können, bedürfen selbstverständlich auch ihrer Umsetzung. Ob und inwieweit dies tatsächlich passiert, kann nur durch einen direkten Blick auf konkrete Publikationen festgestellt werden. Daher sollen in Zukunft in loser Folge einzelne Editionen eine genauere Würdigung am Beispiel aktueller Veröffentlichungen erfahren.
Den Anfang macht an dieser Stelle die Schriftenreihe "Materialien" des Instituts für Kulturgeographie, Stadt- und Regionalforschung (KSR) der J.W. Goethe-Universität Frankfurt a. M. In dieser Reihe werden Ergebnisse von Diplom- oder Staatsexamensarbeiten, Projekten, gutachterlichen Stellungnahmen, Tagungen und Workshops präsentiert, die insbesondere von regionalem Interesse sind und einem anwendungsbezogenen und praxisorientierten Ansatz folgen.
Jens Peter Scheller u. Klaus Wolf (Hg.) (2000): Lokale Agenda 21 in Frankfurt am Main. Ein Evaluationsbericht. Frankfurt (=Materialien/ Institut für Kulturgeographie, Stadt- und Regionalforschung der J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main; 28). 101 S.
Die Veröffentlichung entstand aus einem Projektseminar, das in den Jahren 1998/1999 in Kooperation mit dem Umweltamt der Stadt Frankfurt durchgeführt wurde. In diesem Rahmen wurde ein großer Teil der stästischen Agenda-Akteure in leitfadengestützten Interviews zum allgemeinen Verständnis, zum bisherigen und zum erwartenden Verlauf und zur Struktur der Lokalen Agenda 21 in Frankfurt befragt und ergänzend quantitative Daten erhoben. Zum Zeitpunkt der Befragung befand sich der Prozess in der Phase der Leitbildentwicklung. Der Band enthält insgesamt elf Einzelbeiträge sowie ein vollständig abgedrucktes Interview mit dem damaligen Frankfurter Umweltdezernenten Tom Koenigs. Nach einem einführenden Beitrag zu
Entstehung und Inhalt des Arbeitsprogramms Agenda 21 sowie dem Stand der Umsetzung des Programms Lokale Agenda 21 in den bundesdeutschen Kommunen werden auf Basis der Interviews Strukturen, Motivationen, Selbstverständnis und Zielsetzungen der befragten Akteure ausgewertet. Weitere Themen sind die Wahrnehmung und Bewertung der praktizierten Partizipationsformen, des Konsensprinzips als Teil des Agenda-Prozesses und der Gesamtorganisation durch die Akteure sowie deren Sicht in Bezug auf die Zukunft des Frankfurter LA 21-Prozesses. Der letzte Beitrag fasst die Aussagen hinsichtlich ihrer kritischen Aussagen zusammen und entwickelt daraus folgend Vorschläge für eine verbesserte Weiterführung. Als einen Hauptkritikpunkt entwickeln die Autoren - neben einem Ungleichgewicht der drei inhaltlichen "Säulen" zugunsten des Umweltschutzes sowie der Schwierigkeit von heterogen zusammengesetzten Gruppen unter Bedingungen des Konsensprinzips Entscheidungen zu treffen, die über oberflächliche Aussagen hinausgehen - die mangelhaften Partizipationsmöglichkeiten unorganisierter Bürger als Hauptgrund für die mangelhaften Perspektiven des LA 21-Prozesses in Frankfurt. Die Autoren empfehlen als perspektivische Weiterentwicklung des Intrumentariums u.a. eine Ausweitung der Öffentlichkeitsarbeit sowie eine Organisation der Arbeitskreise auf Stadtteilebene.
Mathias Schneider: Der deutsche Kongress- und Tagungsmarkt unter besonderer Berücksichtigung des Nachfragesegments "mittelständische Unternehmer". Jochen Würges: Städtenetze als Perspektive der interkommunalen Zusammenarbeit. Darstellung eines neuen raumordnungspolitischen Instruments am Beispiel des Städtenetzes Lahn - Sieg - Dill. Frankfurt a. M. 2000 (=Materialien/ Institut für Kulturgeographie, Stadt- und Regionalforschung der J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main; 29). 203 S.
In diesem Band werden zwei ebenfalls akteursorientierte, am KSR entstandene Diplomarbeiten zusammengefasst. Die Arbeit von Schneider stellt dabei die erste bundesweite Untersuchung des Kongress- und Tagungsmarktes seit 1995 und die erste Untersuchung überhaupt zum Tagungsverhalten mittelständischer Unternehmen dar. Nachdem im ersten Teil der Arbeit eine grundlegende Lagebestimmung des Kongress- und Tagungswesen als Teilbereich des Fremdenverkehrs und die Einordnung in geographische Fragestellungen erfolgt, wird im darauffolgenden Abschnitt auf der Grundlage von Sekundärmaterialien sowie von 34 Experteninterviews eine Angebots- und Nachfrageanalyse vorgenommen. Im eigentlichen empirischen Teil der Untersuchung wird eine Grundgesamtheit von 2.000 mittelständischen Unternehmen in zwei Befragungsschritten mit einer Rücklaufquote von insgesamt 7,7 % (148 Fragebögen) zu Tagungsvolumen, Höhe der Budgets, Veranstaltungsgestaltung, Qualität der Anbieter, bevorzugte Städte und Entwicklungsperspektiven schriftlich befragt. Ergänzt wird diese schriftliche Erhebung durch eine telefonische Befragung von 40 Unternehmen.
Als wichtigstes Ergebnis der Untersuchung kann festgehalten werden, dass moderne Trends in der Tagungsnachfrage durch Großunternehmen - wie hoher Erlebnisgehalt, Verknüpfung von sachlichen Informationen mit Freizeitwerten und die Nutzung entsprechender Medien - im Rahmen der Nachfrage durch mittelständische Unternehmen bisher nur gering ausgeprägt sind. Daraus ergibt sich ein bisher weitgehend ungenutztes Marketingpotential für innovative Anbieter auf dem Tagungsmarkt.
Würges' Arbeit zur Perspektive interkommunaler Zusammenarbeit untersucht prozessbegleitend am Beispiel Lahn-Sieg-Dill das neue raumordnerische Instrumentarium der Städtenetze. Nach einer eingehenden Einführung über Aspekte interkommunaler Zusammenarbeit im allgemeinen und das Konzept der Städtenetze im besonderen wird in den folgenden Kapiteln - auf der Basis der Auswertung von 18 Experteninterviews - eine Analyse der Wirksamkeit dieses Instrumentariums, den Hemmnissen der Zusammenarbeit, potentiellen Weiterentwicklungsmöglichkeiten und die Bedeutung für zukünftige Entwicklungen skizziert. Die hochgesteckten Erwartungen werden für das untersuchte Fallbeispiel allerdings aus Sicht der Akteure nur in geringem Masse erfüllt. Bisher werde das Städtenetz der Anforderung, konfliktreiche Themen zu bearbeiten und gemeinsame Maßnahmen einzuleiten, nicht gerecht und entwickle sich im Vergleich zu anderen Städtnetzen relativ langsam. Schwierigkeiten bereiteten insbesondere die Motivation der Akteure, häufige Veränderungen der Arbeitsgruppenzusammensetzungen, die Konsensbildung, mangelndes Problembewusstsein sowie unterschiedliche Informationsniveaus der Akteure. Für die Weiterentwicklung des Städtenetzes werden daraus folgend zwei wichtige Zielsetzungen formuliert: verstärkte Information über die Chancen der Zusammenarbeit und deren Notwendigkeit und Schaffung von eigenständigen Anreizen, um Motivationen und Engagement zu erhöhen. Eine grundlegende Effektivierung sei jedoch nur durch den Übergang zu geregelteren Kooperationen - mit einer entsprechenden Übertragung von Kompetenzen - zu bewirken.
Klaus Wolf u.a.: Der Langener Waldsee. Struktur und Pontetial einer regionalen Freizeiteinrichtung. Frankfurt a. M. 2000 (=Materialien/ Institut für Kulturgeographie, Stadt- und Regionalforschung der J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main; 30).136 S.
Dieser Band ging aus einem in Zusammenarbeit mit dem Umlandverband Frankfurt im SS 1997 durchgeführten Proseminars zur "Geographie der Freizeit" hervor. Auf der Grundlage standardisierter Fragebögen wurden insgesamt 617 "Freizeitnutzer" befragt. Expertengespräche und eine Funktionskartierung des Sees und seiner unmittelbaren Umgebung ergänzten diese Erhebung. Die Untersuchung trifft Aussagen über die sozio- demographischen und -ökonomischen Merkmale der Nutzer, ihre zeitlichen und räumlichen Nutzungsmuster, das Aktivitätenspektrum und die Nutzung bestimmter Einrichtungen sowie die Bewertung der Freizeiteinrichtung "Langener See" durch die Nutzer und entwickelt schließlich zusammenfassend Empfehlungen für eine zukünftige Entwicklung dieser Freizeiteinrichtung.
Klaus Wolf u. Christian Langhagen-Rohrbach: Regionale Freizeiteinrichtungen im Rhein-Main-Gebiet. Frankfurt a. M. 2001 (=Materialien/ Institut für Kulturgeographie, Stadt- und Regionalforschung der J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main; 31). 228 S.
In unmittelbarem Zusammenhang mit der vorhergehend besprochenen Veröffentlichung befasst sich dieser Band in seinem ersten Teil mit einer weiteren Freizeiteinrichtung im Rhein-Main-Gebiet - dem Rodgau-See - seiner Nutzerstruktur und seiner Entwicklungspotenziale. Auch diese Arbeit ist aus verschiedenen Praktika als Auftragsarbeit des Frankfurter Umlandverbandes und der Stadt Rodgau hervorgegangen.
Insgesamt wurden 379 Strandbesucher befragt. Daneben wurde eine Anwohnerbefragung (Flächenstichprobenbefragung, 243 Haushalte verwertbar) durchgeführt; ergänzt wurden die so gewonnenen Informationen durch Expertengespräche. Die Auswertung erfolgte analog zu der Untersuchung des Langener Sees.
Der zweite Teil des Bandes enthält schließlich eine vergleichende Darstellung der beiden oben aufgeführten Untersuchungen sowie einer in ähnlichem Rahmen am KSR durchgeführten Studie aus dem Jahre 1993. Alle drei Badeseen befriedigen in erster Linie die Bedürfnisse der unmittelbar benachbarten Bevölkerung, von einer regionalen Bedeutung von Badeseen kann also nur bei einem sehr eng gefassten Regionalbegriff gesprochen werden. Bei guter ÖPNV-Anbindung ist die Erreichbarkeit für den Individualverkehr kein Kriterium für den Grad der Nutzung. Festgestellt wurden "originäre Tätigkeiten" während des Besuchs eines Badesees - wie Schwimmen, Sonnen, Lesen, Ausruhen, mit Freunden/Familie zusammen sein, Spielen und Sport treiben -, denen zunächst in der Grundausstattung der Freizeiteinrichtungen Rechnung getragen werden sollte. In der Zusammenfassung wird eine Aufstellung von Elementen eines Idealumfangs der Ausstattung eines Badesees entwickelt.
Die hier besprochenen Bände der Materialien des KSR lassen folgende Gesamtwürdigung der Schriftenreihe zu:
1. Offensichtlich wird am KSR eine solide Ausbildung in regionalwissenschaftlichen Methoden mit einer Schwerpunktsetzung auf angewandte Themen durchgeführt. Damit weist das KSR auch die Qualifizierung seiner Studierenden für den entsprechenden Arbeitsmarkt nach.
2. Die Auswahl und die Bearbeitung der Themen zeigt eine Orientierung an aktuellen, gesellschaftlich nachgefragten Problemstellungen. Wissenschaft wird hier eindeutig als Beitrag zu politischer Entscheidungsfindung verstanden
3. Das Institut erfüllt nicht zuletzt auch eine Funktion als Dienstleister für den Hochschulstandort; die untersuchten Sachverhalte stammen überwiegend aus dem Rhein-Main-Gebiet und decken (nicht ausschließlich) regional interessante Fragestellungen ab.
Insgesamt handelt es sich bei den Materialien des KSR um einen guten Einblick in die wissenschaftlichen Aktivitäten des Instituts, die einen in sich konsistenten und in der wissenschaftlichen Ausrichtung homogenen Eindruck machen. Zugleich erweisen sich die Publikationen als konsequent eingebettetes Element geographischuniversitärer Lehre und Forschung. Damit tragen die Materialien zwar in eher geringem Ausmaß zur Weiterentwicklung geographischer Wissenschaft (was als wichtiges Desiderat von Veröffentlichungen anzusehen wäre) bei, präsentieren jedoch in überzeugender Weise die wissenschaftliche Produktivität eines kleinen geographischen Instituts. Und das ist mehr, als manchen großen Instituten attestiert werdenkann.
Autoren: Wolfgang Aschauer und Petra Dassau

Quelle: geographische revue, 5. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 77-82