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Kategorie: Rezensionen

Jan Wehrheim: Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung. Opladen 2002 (Stadt, Raum und Gesellschaft, Band 17). 238 S.

Der vorliegende Band dient prinzipiell der Rezeption einschlägiger Literatur zum Thema sozialräumliche Segregation in modernen Großstädten. Mit der Mehrzahl der besprochenen Autoren geht J. Wehrheim von einer Trendwende im Themenumfeld aus: wo vordem gewissermaßen 'natürliche', dem Kapitalismus immanente, Segregationsprozesse im räumlichen Sinne prägend waren, konnte in den vergangenen Jahren zunehmend Formen von 'künstlicher' Segregation beobachtet werden. Ausgehend von den Vereinigten Staaten, aber auch von Südafrika und Brasilien, und verbunden mit so prägnanten Ausdrücken wie 'gated community' oder 'Überwachung öffentlicher Räume', reflektieren auch in Deutschland solche neuen Praktiken zunehmend neue sozio-ökonomische Realitäten.

Der Schlüssel zu diesem Wandel liegt laut J. Wehrheim in der "zyklischen Wiederkehr des Themas Unsicherheit in Großstädten" begründet (13), welche über eine stark immanent geprägte "Logik der Gefährlichkeit" (38) den legitimatorischen Boden für ausgrenzende Stadtgestaltung oft erst erschließt. Mike Davies' City of Quartz
und Frank Furedis Culture of Fear sind auf jeweils eigene Art Zeitzeugen dieser Entwicklung, wie auch Michael Moores Dokumentarfilm Bowling for Columbine zentral auf die Herstellung der Erzeugung gesellschaftlicher Ängste hinweist; deren Konsequenz ist oft eine sozialräumliche Polarisierung über den bekannten Rahmen etwa der Chicagoer Schule hinaus. Das vorliegende Werk arbeitet dabei die Spannbreite dieser Polarisierung treffend heraus und stellt so alltägliche Formen der strukturellen Ausgrenzung (z. B. durch Design oder 'dress codes') in direkte Nachbarschaft zu oft großräumig wirkenden (??) Limitationen (z. B. die Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsteile oder die Bestrafung bestimmter Verhaltensformen in bestimmten Räumen). Die zentrale Rolle, die hierbei moderne Überwachungstechnologien spielen, arbeitet der Autor ebenso geschickt heraus wie er darauf bedacht ist, verschiedenerlei Stränge zu einer überzeugenden Gesamtdarstellung zu verbinden.
Interessant ist in diesem Kontext zu beobachten, wie gesellschaftlicher Wandel und sozialwissenschaftlicher Diskurs sich gegenseitig ergänzen und bestärken. 'Die überwachte Stadt' gibt ein gutes Beispiel hierfür in einer ausführlichen Diskussion des sogenannten 'Broken-Window-Ansatzes' im ersten von drei sehr lesenwerten 'Exkursen'. Der schleichende Übergang von wissenschaftlicher Theorie zu sozialpolitischer Realität - hier ansprechend diskutiert anhand der 'Progression' von Konzepten zur 'Zero Tolerance'-Politik des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Rudi Guilliani - dient als Erinnerung an eine oft nur schwer greifbare sozialwissenschaftliche Verantwortung.
Ein nicht kleines Verdienst der vorliegenden Arbeit ist es, den zeit-räumlichen Rahmen des Themenumfelds sozial-räumliche Ausgrenzung weit gefasst zu haben: zumindest im Ansatz wird so der Gegensatz zwischen 'immanenten' und 'gesteuerten' Segregationsprozessen hinterfragt und für die Kritik zugänglich gemacht. Gerade vor dem Hintergrund einer Verschiebung der begleitenden Diskurslandschaft von integrativen Anstrengungen hin zur Rechtfertigung ausgrenzender Strukturen, wie sie gerade im US-amerikanischen Kontext in den letzten zwei Jahrzehnten zu beobachten war, ist diese Kontextualisierung mehr denn je vonnöten.
Nur so und vor dem Hintergrund der fortschreitenden Stigmatisierung ärmerer Bevölkerungsgruppen ist überhaupt verständlich, warum der in den späten 70-er und frühen 80-erJahren so überaus negativ besetzte Gedanke an 'Überwachung' heutzutage mehrheitlich entweder neutral oder gar positiv beurteilt wird. Gerade in Großbritannien, wo viele Städte inzwischen eine fast flächendeckende visuelle Erfassung der Innenstadtbereiche durch CCTV (Closed Circuit Television) erreicht haben, ist spätestens seit der massenhaften Verbreitung jener Bilder des entführten (und später ermordeten) zweijährigen James Bulger im Februar 1993 aus einer Shopping Mall in der Nähe von Liverpool, das Medium CCTV nicht mehr aus der kriminologischen Berichterstattung wegzudenken. Ein nicht geringer Verdienst der hier besprochenen Arbeit ist es, über den primär informativen Rahmen hinaus auch über die verhaltensverändernden Konsequenzen dieses Wandels nachzudenken. Als besonders interessanten Aspekt empfand ich hierbei persönlich das Thema der Privatisierung öffentlicher Räume - und hätte hierüber gerne mehr gelesen als die im vorliegenden Text bisweilen sehr legalistisch sich anbietende Diskussion. Die hierbei marginalisierte normative Diskurs, der noch bei Jürgen Habermas aus den interessengesteuerten Verbindungen zwischen privaten und öffentlichen Räumen demokratische Strukturen und Praktiken hat erwachsen lassen, geht solcherart oft verloren, wo ihm denn überhaupt noch Platz eingeräumt wird.
Geschrieben als soziologische Dissertation an der Uni Oldenburg, ist der Text von einer geographischen Sensibilität durchdrungen, die in eigentlich geographischen Veröffentlichungen so konsequent nicht immer praktiziert wird. Sprachlich kann sich der Band vom Duktus einer Doktorarbeit nicht gänzlich befreien, was jedoch zumindest einer schnellen Orientierung eher nützlich ist. Beeindruckend ist vor allem der Zugriff auf umfangreiches Material aus dem englischsprachigen Raum, welches hier systematisch (und gewinnbringend) mit der deutschen Fachliteratur verbunden wurde. Da Begriffe aus dem hier besprochenen Themenumfeld wie "gated community", "zero tolerance" oder auch "Closed Circuit Television CCTV" auch im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst haben, ist die Aufarbeitung der existierenden Literatur in dieser Breite sicherlich nur willkommen zu heißen.
Literatur
Davis, Mike, 1990: City of Quartz, London.
Furedi, Frank, 2002: Culture of Fear, NewYork.
www.guardian.co.uk/bulger/article/0,2763,889804,00.html
Autor: Ulf Strohmayer

Quelle: geographische revue, 5. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 85-87