Detlef Müller-Mahn: Fellachendörfer. Sozialgeographischer Wandel im ländlichen Ägypten. Mit 59 Abbildungen, 31 Fotos und 6 Kartenbeilagen. Stuttgart 2001 (Erdkundliches Wissen, Heft 127).

Diese 1996 abgeschlossene und als Habilitationsschrift an der Freien Universität vorgelegte Arbeit hat an Aktualität nichts eingebüsst. Sozial- und Wirtschaftsgeographen, wie der Autor zeigt und in seinen methodischen Überlegungen eingangs begründet, haben einen Wirklichkeitsbegriff, der sich auf das Konkrete des sozial gestalteten Raums bezieht. Konsequenterweise fragt die Arbeit nicht nur nach dem Prozess sozialgeographischen Wandels, sondern auch nach den Strategien der Existenzsicherung und Lebensgestaltung, dem Zusammenhang von Raum- und Sinnstrukturen und nach den Folgen sozialen Handelns für die Raumgestaltung.

Hier wird das Terrain für eine Reihe von nicht nur für den Sozialgeographen wichtigen Fragen abgesteckt, denen sich die Studie stellt. Es folgt ein Überblick über die Geschichte der Entwicklung des ländlichen Raums in Ägypten. Danach werden sieben Dörfer Mittelägyptens und des Deltaraums einer quantitativen Strukturanalyse unterzogen. Die restlichen drei Kapitel widmen sich detaillierten, auf qualitative Analysen sich stützende Dorf-Fallstudien: ein an Wüstenland grenzendes "Beduinendorf" am rechten Nilufer in der Höhe von Bani Mazar (Hammada), ein konventionelles Fellachendorf am rechten, westlichen Ufer wenig nördlich von Minya (Zuhra), ein zur Vorstadt Tantas mutiertes Dorf im Zentraldelta (Sibrbay). Insgesamt ist dies eine durch ihre Detailkenntnis und die Geschlossenheit des Ansatzes bestechende Studie des Siedlungswachstums und des ökonomischen Wandels des ländlichen Ägyptens.
Seit dem 11/9-Ereignis ist die Kluft zwischen metropolitanen und den Armutskulturen der sogenannten Dritten Welt wieder in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit getreten. Unser Blick auf diese Kluft hat sich weiter geschärft. Aus der Sicht der Entwicklungen der 80er und 90er Jahre neigt man dazu die Kontinuität dieser Kluft eindimensional mit den Unterschieden in kultureller Tradition oder mit den Wesens-Gegensätzen von Zeit- und Raum-bezogenen Lebensweisen zu erklären. Der Autor hält sich hier wohltuend zurück. Es geht ihm nicht um die "local culture", die im Globalisierungs-Diskurs an Gewicht gewonnen hatte. Raumbestimmtheit als Wesensmerkmal einer besonderen - unserer Zeit- und Funktionsbestimmtheit entgegengesetzten - Lebensweise zu betrachten, wäre eine Differenzierung, die "Raumwissenschaft" wieder nur in "Armutswissenschaft" überführen würde. Es ist andererseits aber durchaus bemerkenswert, dass der Raumbezug des Sozialgeographen auf geradezu naturwüchsige Weise vornehmlich auf ländliche oder urbane Armutskulturen geworfen bleibt. Auch bleibt Müller-Mahns theoretische Konzeption, etwa "räumliche(n) Strukturen im konkreten Forschungsprozess die Funktion von hermeneutischen Hilfsmitteln zum Aufdecken sozialer Zusammenhänge" (S.16) zu geben, der Vorwurf nicht erspart, hier selbst einer gewissen Naturwüchsigkeit zu folgen. Denn Raum- ist hier ohne höhere Problematisierung Sinn-Bezug, gerade wenn man von einem universell verstandenen, handlungstheoretischen Modell der Korrespondenz von "Zweck"-Rationalität (ökonomisch strategisches Denken) mit "Sinn"-Rationalität (räumlich-soziale Verankerung des Akteurs) ausgeht. "Sinn" wird so ausschließlich aus den konkreten räumlichen (Nutzungs-)Möglichkeiten des Akteurs gezogen. Die Kategorie des genius loci etwa, von ägyptischen Sozialgeographen wie Gamal Hamdan z. B. ins Zentrum einer vierbändigen Arbeit gestellt, könnte als ein durchaus gegenläufiges Modell mitgedacht werden und so manche Kontinuität der Raumgestaltung erklären. Müller-Mahns Sinnbegriff reflektiert jedoch stillschweigend nur die gegebene armutskulturelle Bedingung, nämlich die durch Bevölkerungswachstum verursachte Knappheit des sozialen Raums. Die den Hauptteil der Arbeit bildenden drei Dorfstudien führen die Perspektive der Sozialgeographie auf Individuen und Familien als Akteure hin, die weitgehend nur den zweckgerichteten Bezug zu den räumlichen und sozialen Strukturen des Dorfes und seiner Außenwelt haben. Das Problem bleiben die "immanenten Sinnstrukturen" und die "eigene Geographie" dieser Akteure. Denn Sinn wird hier auf "ökonomische Sinnhaftigkeit" unter dem Gesichtspunkt des "dörflichen Handlungsgefüges" reduziert (S.24). Gruppen, für das ägyptische Dorf so wichtige Altersgruppen, oder überhaupt wechselnde Kollektive, durch deren Kontext, die Treff- und Handlungsorte, hindurch und über sie hinaus sich erst "individuelle Akteure", aber auch Familien-Strategien und -Konflikte, bilden, bleiben oft nur Gegenstand anekdotischer Betrachtung (vgl. etwa 208 ff.).
Müller-Mahns Sozialgeographie will sich der Ethnologie nähern (vgl. etwa 20 ff.), und verweigert sich nicht der Tatsache, dass räumliche Ordnung gerade auch von kulturellen Mustern geprägt wird. Doch der Aspekt des Gegensatzes von Knappheits- und Kulturfragen wird nicht verfolgt. Gerade in Armutskulturen tritt Knappheitslogik oft in starkem Gegensatz zu Traditionsund kulturellen Ordnungsvorstellungen auf. Der Autor entdeckt im Anschluss an die Arbeiten von Wirth und Nippa in den neuen Bauweisen einen "abgestuften Zwischenbereich", "in dem sich Privatheit und Öffentlichkeit verbinden" (156 f.), also eine gegenüber der angenommenen strikten kulturspezifischen Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit sich neu durchsetzende "funktionale Differenzierung". Man vermisst aber auch hier die Möglichkeit zu nicht-funktionalen Lösungen, die sich im Konflikt und sei es nur als Übergangsstufe aufdrängen: Straßenecken, Treffplätze/Bäume, Cafés etc. Dadurch geht dem Verfasser der Blick für die Obskuritäten der Raumgestaltung im ägyptischen Dorf verloren. Die Gegensätze zwischen kultureller Orientierung und ökonomischer Not können zu höchst irrationalen, obskuren und konfliktreichen Formen der aktuellen Raumgestaltung führen.
Statt dessen bleibt Müller-Mahns Hermeneutik auf eine Morphologie der materiellen, ökonomischen, letztendlich immer rationalen Gestaltung des Raums gerichtet. Dabei sind die symbolischen Produktionen und Orientierungen im Raum aus der "Raumwissenschaft" verbannt. Man vermisst die Maqams, die Gräber der Lokalheiligen, die Moscheen und Zawiyas, die Cafés und Treffplätze der Männer, die alten Dresch- und neuen Fußball-Plätze. Auch die mit soviel Eindeutigkeit beschriebenen Vor- und Rückbindungen der Netzwerke von Sibrbay-Familien nach Paris (233-37) bleiben Anekdoten der Auflösung "sozialräumlich definierter Einheiten", der "Urbanisierung ländlicher Lebenswelten", und der "Entstaatlichung". Die sozialgeographisch wichtige Frage, nach der Art der "Platz"-Suche, die diese Akteure gerade dann betreiben, wenn sie die funktionalen metropolitanen Räume, in denen sie so erfolgreich operierten, aufgeben und in ein kaum noch funktionales Operationsfeld im sich nur äußerlich urbanisierenden ägyptischen Delta-Dorf zurückkehren, bleibt unbeantwortet. Der in der Theorie-Skizze so vernachlässigte Faktor, dass unmittelbar erfahrbare soziale Anerkennung über das Raumverhalten bestimmt, wird hier deutlich, aber nicht weiter reflektiert und für die Erweiterung der Perspektive nicht nutzbar gemacht: Im fremden Paris kann man offenbar soziale Anerkennung nicht in der gewünschten Form erreichen. So scheint in der praktischen Handlungswelt der Drang nach sozialer Anerkennung weiter zu leben, und entscheidend zur Bildung der "eignen Geographie" beizutragen. Man kehrt zurück. Über die Folgen solcher Prozesse für das räumliche und soziale Bewusstsein der Akteure hätte man aber gerne mehr gewusst. (Eine Frage, die sich hier anschließt ist die folgende: Warum gibt es aus den Dörfern und Städten der Delta-Provinzen, Minufiyya - hier ganze Gruppen aus Batanun und Gharbiyya - Tanta bis in die höheren Gefilde des Marais etwa) einen direkten Weg nach Paris, nicht aber aus der Minya-Region? - Raumgeschichte? Netzwerke? Zufall?).
Konkret geht es Müller-Mahn erstens um Hausgrundrisse und die "darin enthaltenen Einrichtungen" kartographisch zu dokumentieren, als "Aspekte der materiellen Lebenswelt" und "räumliche Spuren des Alltagshandelns" (S. 24 f.). Zweitens um die Kartographie der Dorftypen und drittens in drei empirischen Dorfstudien um sozialgeographischen Wandel vor dem Hintergrund einer "historisch-genetischen Interpretation des heutigen Ortsbildes" (S.26).
Das Verdienst dieser Studie liegt darin, dass sie uns mit einer Fülle von sehr detaillierten Materialien und Daten zum räumlichen und sozialen Strukturwandel des ägyptischen Dorfes ausstattet. Neben der Kartographie der inneren und äußeren Transformationen des Dorfes werden Familiengeschichten, Lebensverläufe von einzelnen Individuen und Beschreibungen des landwirtschaftlichen Institutionen-Wandels geliefert. Es entsteht so - in der Einschränkung des konkret geographisch angesetzten Blickwinkels - ein sehr anschauliches Bild von wichtigen Momenten der jüngeren Sozialgeographie Mittel- und Niederägyptens. Die morphologischen Einzelstücke eines in der Geschichte des ägyptischen Agrarkapitalismus gewachsenen sozial-geographischen Wandels der 1980er und 1990er Jahre werden uns sehr materialhaltig und minutiös vermittelt. Die diesen Prozess überlagernden und auch beherrschenden kulturellen Regime werden ausgeblendet.
Der Autor muss sich fragen lassen, ob die der Materiallage angepasste, morphologisch ausgedeutete, ökonomisch-strategische Verkürzung der Verbindung von Sinn- und Raumfragen, dann doch den Wandlungspotentialen der "Fellachendörfer" der 80er und 90er Jahre entspricht. Müller-Mahns Blick bleibt an den Morphologien der Landreformen Nassers hängen, deren in Zement gebaute Kooperativen die Dörfer mit dem Neuen bekannt machten. Für diese wichtige Kontinuität hält die Studie den Blick offen. Die Moscheen und Maqams, die in den 80er und 90er Jahren Gegenstand einer neuen politischen Raumästhetik geworden sind, werden zwar akribisch in den Karten verzeichnet, dem Angriff aber, der von dieser "Ästhetik" auf Müller- Mahns "Sinnrationalität" des Raums geführt wird, entzieht sich der Verfasser. Er kann dies auch nicht nur mit "Entstaatlichung" erklären.
Positiv gewendet: Diese Studie zeigt - und auch jenseits der Intentionen des Autors sehr überzeugend - die in den Fellachendörfern herrschenden Kontinuitäten der Logik der Existenzsicherung auf, die durchaus auch einen Angriff auf die Kulturregime der 80er und 90er Jahre führen.
Autor: Georg Stauth

Quelle: geographische revue, 5. Jahrgang, 2003, Heft 1, S. 95-98