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Kategorie: Rezensionen

Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen (Hg.): Kommerz, Kunst, Unterhaltung. Die neue Popularkultur in Zentral- und Osteuropa. Bremen 2002 (Analysen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa, Band 13). 339 S.

Ein Sammelband über die neue Popularkultur Osteuropas ist nicht nur ein wissenschaftlicher Bericht über "allgemein zugängliche" Medienprodukte in den betreffenden Ländern, sondern zugleich eine zugängliche Analyse der gesellschaftlichen Transformation dieser Länder im Kontext ihrer jeweiligen soziokulturellen und politischen Besonderheiten.
Verschiedenste Aspekte der seit 1989 fortdauernden Transformationsprozesse in den zentral- und osteuropäischen postkommunistischen Ländern waren und sind Gegenstand politik-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Die Entwicklung der Popularkultur der Region zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse zu machen, lässt sich dagegen zurecht als Pioniertätigkeit bezeichnen. Als besonders interessante zudem, denn mit dem Ende der ideologisch motivierten Bevormundung wurden sowohl Konsumenten als auch Künstler und Produzenten aus der diktierenden totalitären Kulturpolitik entlassen. Nachdem politische Freiheiten und wirtschaftliche Liberalisierung zunächst hauptsächlich durch massenhaften Import von übersetzten Weltbestsellern und aufgekauften amerikanischen Filmproduktionen Umsetzung fanden, baut sich seit Mitte der 1990er Jahre das Übergewicht von Importen kontinuierlich zugunsten eigener Produktionen ab. Die Popularkultur Osteuropas bietet daher einen aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand, an dem diverse Trends der Demokratisierung, Privatisierung, Amerikanisierung wie auch kulturellen Selbstreflexion aus veränderter Perspektive nachgezeichnet werden können. "Generation P", heißt es in dem vorliegenden Band exemplarisch über einen russisch-avantgardistischen Bestseller, "ist ein Text zugleich über und aus der Massenkultur" (Hänsgen, 124).
Die gesellschaftliche Rolle der "Popularkultur" oder "Kultur der Massen" ist seit jeher von analytischem Interesse für Disziplinen wie Literatur- und Kommunikationswissenschaften, Geschichte, Philosophie, Anthropologie oder Sozialgeographie, wobei sich zwei theoretische Grundrichtungen herausbildeten. In der Tradition der Frankfurter Schule wird Popularkultur eher kritisch als trivial, kommerzialisiert
und passiv betrachtet, wohingegen Ansätze der angloamerikanischen cultural studies für ihren kreativen und authentischen Charakter argumentieren. Der vorliegende Band will den Begriff der Massen- oder Popularkultur nicht im kritisch wertenden Wortgebrauch als niederen Gegenpol zur hohen, problemorientierten, anspruchsvollen Kultur verstanden wissen. Vielmehr soll, im Sinne der cultural studies, Popularität positiv benotet und an Zuschauerzahlen, Einschaltquoten, Auflagenhöhe und Präsenz in der Medienwelt gemessen werden (Trepper, 7). Der in den cultural studies bestehende umfangreiche Diskurs um verschiedenste Definitionsangebote für die beiden inhärenten Dimensionen des Begriffs - popular (allgemeine Öffentlichkeit) und culture wird hier allerdings nicht aufgegriffen oder reproduziert.1 Hauptanliegen ist es, anhand von Fallbeispielen verschiedene populäre Medienbeiträge im Kontext der gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Osteuropa zu thematisieren, was jedoch gelegentliche Diskussionen neuer konzeptioneller Herausforderungen nicht ausschließt.
Der Band umfasst fünf Hauptteile: Literatur, Fernsehen, Film, Jugendkultur und Reklame, denen eine allgemeine Einleitung sowie eine soziologische Reflexion über verbreitete Mythen in der Analyse von Massenkultur speziell in postkommunistischen Gesellschaften vorangehen. Die einleitenden Texte verweisen bereits auf gesellschaftlich bedingte Spezifika des Untersuchungsgegenstandes im osteuropäischen Raum. Autoren der Fallstudien sind polnische, deutsche, russische, tschechische und slowakische Theoretiker und Praktiker so verschiedener Metiers wie Literatur- und Filmwissenschaft, Philologie, Journalistik, Kommunikations- oder Medientheorie, Soziologie, Kunst, Kultur, Marketing oder Redaktion. Aufgrund dieser multidisziplinären Herangehensweise gelingt es, den Untersuchungsgegenstand im Rahmen des Buches in ausdifferenzierter Weise zu erfassen und damit erneut zu illustrieren, dass Popularkultur keine allgemeine oder homogene Kulturform darstellt. Es wird deutlich, dass sich ihre fiktionale Wirklichkeit ebenso aus diversen gesellschaftlichen Inspirationsquellen speist, wie sie durch ihre Genre- und Themenvielfalt verschiedenartige zwischen- und innergesellschaftliche Realitäten wiederzugeben vermag.
Im Mittelpunkt steht daher nicht nur der mediale, sondern auch der kontextuelle gesellschaftliche Wandel in Polen, Tschechien, der Slowakei und Russland. Die Autoren untersuchen und interpretieren verschiedenartige jüngere populäre Beiträge dieser Länder im Hinblick auf Inhalte, Stilarten und Publikumswirksamkeit.
Was berichtet die Massenkultur den postkommunistischen Massen heute; was berichten sie über sich selbst? In Inhalten von Romanen, Filmen, Liedtexten oder Werbespots werden gesellschaftliche Transformationsprozesse am auffälligsten reflektiert. Die besprochenen Werke greifen Gesellschaftdiskurse auf, spiegeln Wirklichkeitserfahrung und Wertewandel im Verlauf der 1990er Jahre wider oder bieten schlichtweg alternative Wertorientierungen an. In der Porträtierung der jeweiligen Protagonisten und Nebenfiguren werden Beziehungen von Individuen zu einer im Wandel begriffenen Umwelt sowie die Veränderung von individuellen Werten und Motiven problematisiert. Generalthemen sind dabei aktuelle gesellschaftliche Phänomene wie die Ausbreitung westlicher Werte, Kommerzialisierung, Drogen, Kriminalität und soziale Polarisierung, die soziokulturelle Adaption an Veränderungen, aber auch neue Nostalgien angesichts verlorengegangener kultureller und sozialer Institutionen der Vergangenheit (Bobowski, Du75 Einzelrezensionen bin, Hänsgen, Trepper, Pulka, Reifová). Zentrale Themen mit staatlicher Dimension im neuen geopolischen Kontext sind insbesondere Sicherheit, verschobene Mächtegleichgewichte und Zusammenarbeit mit oder auch Opposition zu neuen internationalen Akteuren (Dubin, Bobowski, Schlott).
Die Darstellung vieldimensionierter, unübersichtlicher und auch abstrakter Lebenswelten in diesen Werken impliziert nicht selten Messages wie die Suche der Menschen nach uralten universellen Wahrheiten oder die Fähigkeiten des Einzelnen, Widerstände zu überwinden, Widersprüche und Spannungen aufzulösen (Dubin, Schlott). Der allgemeinen Angst vor Kontrollverlust und der Suche nach neuen Identitäten wird offensichtlich gerne mit einem Angebot origineller Idole und Publikumshelden begegnet.
"Rascher Wandel schafft Vertrauensdefizite" - der Philosoph Odo Marquard verweist mit Blick auf eine wandlungsbeschleunigte Welt darauf, dass Gesellschaften wie auch Individuen eine ständig neue und fremde Wirklichkeit nur in Anwesenheit vertrauter Elemente (Traditionen, Teddybären) ertragen können2. So werden auch in den untersuchten Fallbeispielen Identitätssuche und Heldentum vielfach als zentrale Elemente identifiziert, in inhaltlicher Verknüpfung mit Situationen, in denen die soziale Ordnung an Konturen verliert und das Werte- und Normensystem der Gesellschaft erodiert. Eine Analyse russischer Aktionsromane mündet in die Schlussfolgerung: "Der Zerfall der meisten sozialen Institutionen der Sowjetgesellschaft, die Aushöhlung der integrativen Strukturen ihrer Kultur und die verfallene Bedeutung vieler früherer Symbole und Autoritäten sind Veränderungen, die die Mehrheit der Bevölkerung erstmalig in solcher Größenordnung und in solch kurzen Fristen durchlebt. Die synthetisch gewonnenen populären Vorbilder verlangsamen den Adaptionsprozess und federn ihn ab." (Dubin, 141) Helden können dabei ebenso in Gestaltmythischer Wesen (Pulka, Schlott) wie als Durchschnittsmenschen oder besonders tölpelhafte Personen auftreten, letztere auf parodistische Weise ihr Schicksal ertragend und Standpunkte des "kleinen Mannes" verkörpernd (Gudko/Dubin, Kisielewska, Sal'nikova). Insbesondere anhand von Beispielen aus dem russischen und polnischen Fernsehen wird erläutert, dass massenkulturelle Produktionen wesentliche soziale Ausgleichsfunktionen tragen, indem konstruierte gemeinschaftliche Identitäten zur (gefühlten) Nivellierung gravierender Unsicherheiten und sozialer Unterschiede beitragen (Gudko/Dubin, 213).
Wie werden gewichtige Fragen und Themen aufgegriffen und aufgearbeitet? Zwar dient die gesellschaftliche Realität als Inspirationsquelle, in den fiktionalen Wirklichkeiten werden Elemente der Alltagswelten jedoch in verschiedensten Genres sowie in stark modifizierter, verbrämter oder karikierter Form verarbeitet. So greift der polnische Fantasy-Autor Andrzej Sapkowski zu Witz, Ironie und Komik gepaart mit metaphysischen Elementen (Schlott) oder der russische Bestsellerautor Viktor Pelevin zu spöttisch-aggressiver Übersteigerung in utopischen, apokalyptischen Visionen (Hänsgen). Russische Aktions-und Milizromane zeigen sich hochdramatisch (Dubin) oder auffallend skeptisch (Trepper), tschechische Fernsehserien nostalgiebeladen (Reifová), polnische Kinokrimis als Politdramas oder komische Parodien des klassischen Kriminalkinos (Bobowski). Im polnischen Hip-Hop verarbeiten Jugendliche ihre Erfahrungen rückblickend unter Einsatz von eschatologischem Mystizismus und Dramatik (Pulka). Die Markterprobung russischer und slowakischer Werbung hingegen ist der Realität voraus und präsentiert das neue Leben in derb-komischen bis aggressiven Farben (Sal'nikova, Timoracký).
Im Kontext des gesellschaftlichen Wandels werden aber nicht nur neuartige Medienprodukte, wie z. B. Werbung, importiert oder kopiert. Potenziale für neue Publikumsidentifikationen liegen vielmehr in der Entwicklung kulturspezifischer Medientypen, in denen vertraute Genre-Formeln mit Fragestellungen der neuen Zeit verknüpft werden, wie dies bei tschechischen und slowakischen Fernsehserien in der Nachfolge der tschechoslowakischen geschieht. Fernsehserien in Tschechien, der Slowakei und Polen seien daher von vergleichbaren Genres wie amerikanischen Seifenopern oder lateinamerikanischen Telenovelas abzugrenzen. In Anknüpfung an ihre besondere Tradition, der angestrebten Vermittlung eines sozialistischen Optimismus, besitzen diese Geschichtenzyklen trotz verändertem ideologischen Sättigungsgrad auch gegenwärtig eine eigene soziale Relevanz (Kisielewska, Reifová, Wienk/Zajac). Auch die Fantasyromane des polnischen Autors Andrej Sapkowski verlangten nach einer Neudefinition der Fantasy, denn hier agieren Helden, im Unterschied zu ihren "edlen" und sakrosankten Ebenbildern im herkömmlichen Märchen oder Science Fiction, mit eher ambivalenter Moral, unter Einsatz rationalisierter Magie (Gentechnik) und im Kontext einer kohärent-detailliert konstruierten Wirklichkeit. In einer Kritik zu Sapkowski heisst es: " [...] Artus- und keltische Sagenmotive vermischen sich mit der slawischen Dämonologie, Mythen und Legenden von verschiedenen Orten und Zeiten verzahnen sich mit einem modernen politischen Bewusstsein und dem Wissenschaftsdiskurs." (Nowacki zitiert in Schlott, 83)
Wie ist die Resonanz der Massen auf das, was Ihnen geboten wird? Nicht nur ist die Massenkultur an sich Reaktion auf soziokulturelle und sozioökonomische Reformierungsprozesse. Auch in der Publikumswirksamkeit, der Resonanz der Öffentlichkeit und Fachkritik, zeigt sich, welcher Nerv der Gesellschaft durch massenkulturelle Produkte getroffen wird, die diese aktuellen Prozesse verarbeiten. Das Besondere an osteuropäischer Popularkultur ist, dass nicht nur Leserschaft und Publikum nach neuen Identitäten suchen, sondern im Umbruch von verstaatlichter/ideologisierterzu kommerzialisierter/verwestlichter Kultur auch Schriftsteller ein neues Selbstverständnis und Medien eine neue Rolle zu finden haben. Das wird in dem vorliegenden Band deutlich, indem Umorientierungen von Produzenten, Konsumenten und auch der Fachkritik unter dem Einfluss sozioökonomischer Veränderungen diskutiert werden (Gudko/Dubin, Hänsgen, Wienk/Zajac).
Der Band als Gesamtheit veranschaulicht aus unterschiedlichen analytischen Perspektiven die Ausdifferenzierung landesspezifischer Transformationspfade im Hinblick auf den gesellschaftlichen und medialen Wandel Osteuropas. Konzeptionell und theoretisch gut fundierte Fallstudien machen auf die Herausbildung eigener neuartiger Kulturformen aufmerksam, betrachten diese im lokalen Kontext und vergleichen sie mit entsprechenden westlichen Gattungen. Osteuropa ist und war ebenso wenig homogen wie die Popularkultur der einzelnen Länder. Der Band verspricht, eine erste unvoreingenommene Sichtung vorzunehmen, und löst dies nicht nur mit Bestandsaufnahmen osteuropäischer Popularkultur der Gegenwart unter je gesellschaftlichen Bedingungen ein. Die Beiträge erläutern darüberhinaus Interdependenzen der Medien- und Kulturtransformation im historisch-politischen Kontext der einzelnen Nationen. Ein Wermutstropfen ist allerdings die Unterrepräsentierheit des Kapitels "Jugendkultur" mit nur einem Beitrag zum polnischen Hip Hop. Die Popularkultur der Jugend, vor allem die von ihr selbst produzierte musikalische, hätte in ihren landesspezifischen und diversen stilistischen Ausdrucksformen in diesem Kontext mehr Aufmerksamkeit verdient. Insgesamt ist die Konzeption des Bandes jedoch durchaus gelungen und erscheint bestens geeignet, aktuelle kulturwissenschaftliche Informationen einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen und dürfte speziell Osteuropaexperten ebenso ansprechen wie allgemein Medien-, Kultur- und Politikinteressierte.
Anmerkungen:
1 Während das vorliegende Buch einen Kulturbegriff im Sinne der Medienwissenschaft vorauszusetzen scheint, ist man aus geographischer Perspektive versucht, culture als, ebenfalls den cultural studies der 80er und 90er Jahre entlehntes, geographisches Paradigma zu verstehen, dessen zahllose Definitionsangebote im allgemeinen zwei Grunddimensionen ansprechen: (a) Kultur als Ebene oder Arena innerhalb gesellschaftlicher Systeme oder (b) Kultur im Sinne von Denkmustern. Beide Auslegungsmöglichkeiten wären im vorliegenden Band nicht unangebracht, erlauben sie doch ein weitergehendes Verständnis für die dargestellte gesellschaftliche Relevanz der osteuropäischen Popularkultur (Siehe z. B. Don Mitchell 2000: Cultural Geography: A Critical Introduction. Oxford; sowie den Diskurs zu Kulturaliserung in der geographischen revue 2/2000, S. 3-17.).
2 Odo Marquard 2003: "Wir brauchen viele Götter". Spiegel-Gespräch. Der Spiegel 9/2003. S. 152-154.
Autorin: Diana Schmidt

Quelle: geographische revue, 5. Jahrgang, 2003, Heft 2, S. 73-77