Dirk Ducar, Jürgen Rauh (Hg.): E-Commerce: Perspektiven für Forschung und Praxis. Passau 2003. (Geographische Handelsforschung, Band 8).

Der elektronische Handel mit privaten Endkunden hat derzeit noch eine äußerst geringe Bedeutung (2003 ca. 2% der Einzelhandelsumsätze), weist aber eine erhebliche Dynamik auf. Mit dem Aufkommen der Möglichkeit elektronischen Handels waren zunächst unterschiedliche Erwartungen verbunden: Den Szenarien einer weitgehenden Desintermediation mit der Folge des Bedeutungsverlusts traditioneller Einzelhandelsstandorte stand dabei die Charakterisierung des elektronischen Handels als lediglich einem weiterer Vertriebsweg des Versandhandels gegenüber. Aus geographischer Sicht interessieren dabei insbesondere Fragen der Standortpräferenz (Konzentration versus dezentrale Standorte) und verkehrliche Effekte (Substitution, Komplementarität oder Induktion). Allerdings hat sich die anfänglich intensive Beschäftigung mit dem Thema stark reduziert, nicht zuletzt, weil die Diffusionsgeschwindigkeit deutlich geringer war, als anfänglich prognostiziert.
Mit diesem Befund setzt die vorliegende Sammelpublikation ein. Sie enthält sechs Beiträge, die im Umfeld des Arbeitskreises Geographische Handelsforschung entstanden sind. Ducar und Rauh stellen einleitend den Argumentationsrahmen vor und plädieren für eine relationale Perspektive von virtuellem und materiellem Raum sowie für ein komplexes Verständnis von Handel und Konsum in seinen kulturellen und sozialen Einbindungen. Traditionelle Forschungsperspektiven aus der Handelsforschung sollen entsprechend diesen Überlegungen reformuliert werden. In diesem Sinne unternimmt Tegeder den Versuch, Einzelhandel als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklung und damit E-Commerce als "Ausdrucksform der gegenwärtigen Gesellschaft" (13) zu konzipieren. Ducar prüft das konzeptionelle Instrumentarium der Einzelhandelsforschung (namentlich das Konzept der Betriebsform mit den Merkmalen Handlungs-, Organisations- und Kooperationsform sowie die Theorien zum Betriebsformenwandel) auf seine Nutzbarkeit für die neuen Formen des internetbasierten Einzelhandels. Die Überlegungen von Popp und Rauh zu "Standortfragen im Zeitalter von E-Commerce" erweitern den Blick insoweit, als Einzelhandel nicht nur in der Beziehung zwischen Handel und Konsument, sondern als Mittler zwischen Produzenten und Konsumenten betrachtet wird. Dadurch werden Veränderungen in der gesamten Wertschöpfungskette in ihren standörtlichen Wirkungen thematisiert. In Schellenbergs Beitrag werden zum einen die "Besonderheiten der Standortbedingungen im Internet" systematisch skizziert, zum anderen eine Systematisierung der Anbieter und Kooperationsformen von Handel und Diensten im virtuellen Raum vorgenommen. Im letzten Beitrag befasst sich Lenz mit den verkehrlichen Effekten von ECommerce. Dabei stehen vor allem methodische Probleme bei der empirischen Bearbeitung im Vordergrund.
Vom gesamten Themenkomplex wird (bis auf Ansätze bei Popp/Rauh) nur der im Unterschied zum zwischenbetrieblichen E-Commerce (bislang) weitaus kleinere Sektor der Business-to-consumer-Relationen behandelt. Die Beschränkung lässt sich im Interesse einer Fokussierung der Debatte durchaus rechtfertigen, relativiert allerdings den im Titel formulierten Anspruch. Perspektiven für die Forschung beziehen sich dort, wo sie benannt werden, auf die Notwendigkeit weiterer konzeptioneller und methodischer Differenzierung. Hier sind die vorgeschlagenen Perspektiven (Handlungsorientierung, Rekonstruktion individueller Orientierungen, relationale Perspektive, Transdisziplinarität) im Hinblick auf Anknüpfungsmöglichkeiten an die allgemeine humangeographische Theoriediskussion sicherlich weiterführend. Perspektiven für die "Praxis" bleiben dagegen eher implizit, zumal nicht ganz klar wird, welche Praxis angesprochen wird. Explizit bescheinigt Schellenberg der Raumplanung, dass sie "keinen Einfluss auf die Entwicklung des E-Commerce (habe), sie muss sich allenfalls mit seinen Folgen für konventionelle Standortlagen tertiärer Versorgungseinrichtungen auseinandersetzen" (65). E-Commerce wird aber auch als Alternative für die Versorgung ländlicher Regionen thematisiert. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die - raumordnungspolitisch brisante - Frage nach der Definition von Mindeststandards der Versorgung: Gehört ein Internet-Zugang bald zur Grundlage der Infrastruktur wie die "Gelbe Post" und der ÖPNV? Gerade wegen seiner Komplexität bleibt das Thema spannend, auch wenn - und das macht dieser Band deutlich - die Zeiten einer einfachen, technikdeterminierten Sichtweise endgültig vorbei sind.
Autorin: Ruth Bördlein

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 48 (2004) Heft 2, S. 138-139