Drucken
Kategorie: Rezensionen

Hans Gebhardt, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer: Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Berlin 2003. 300 S.

Mehr als andere Werke stellt ein Sammelband den Rezensenten vor die Herausforderung, einerseits den Inhalten der Beiträge gerecht zu werden, andererseits auch etwas über Aussage und Anspruch des Werkes insgesamt mitzuteilen. Aus Gründen des für eine Rezension verfügbaren Raums wird im folgenden nur die programmatische Einleitung näher besprochen.

Das von Hans Gebhardt, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer herausgegebene Werk umfaßt neben der Einleitung 14 Beiträge von verschiedenen Autoren, die sich wiederum um fünf Themen gruppieren. Das sind: (1) Konflikte um Raum und Macht, (2) Kultur und Identität, (3) Kultur- Stadt-Ökonomie, (4) Kultur-Natur und schließlich, (5) eine Gruppe mit theoretischen Beiträgen zum Cultural Turn. Die Herausgeber verstehen das Werk als Lehrbuch, und zwar als Erweiterung und experimentelle Ergänzung des im gleichen Verlag im Jahr 2001 erschienenen Lehrwerkes "Humangeographie". Im Kontrast zum konventionellen Aufbau eines Lehrbuches werden hier Originaltexte "mit unterschiedlichen inhaltlichen Perspektiven und theoretisch-konzeptionellen Positionen" nebeneinander gestellt (S. IX). Die Autoren verwenden mit Bezug auf den Anspruch des Lehrbuchs die Metapher des "Frühstückskorbs", in dem Verschiedenes, aber doch durchweg Genießbares enthalten sein soll. Im einleitenden, von den Herausgebern verfaßten Kapitel wird das bekannte Trio von Semiotic Turn, Linguistic Turn und Cultural Turn eingeführt. Die Autoren erläutern den fundamentalen Wandel in der Perspektive von Wissenschaft auf die eigene Produktion von Erkenntnis, aber auch in ihrer Rolle als Erklärer der Welt. Der Befund der Kulturalistischen Wende wird unmittelbar in eine Reihe von Forschungsperspektiven umgemünzt: "Soziale Beziehungen" sollen deshalb "in kultureller Hinsicht" untersucht werden, "semiotische und sozio-politische Interpretation" sind in "Formen kultureller Repräsentationen" zu suchen, ebenso wie "Alltagspraktiken und kulturelle Ausdrucksformen" als Untersuchungsgegenstände an Bedeutung gewinnen. Die "semiotische Gestaltung von Landschaften, Städten und Konsumwelten", die "Konstruktion von ‚imaginären Geographien'" und nicht zuletzt der "Zusammenhang von Kapitalismus, Spät- bzw. Postmoderne und Kultur" sind zu analysieren (S. 5). Die drei in den Kulturwissenschaften mittlerweile überall zitierten "Wenden" werden mit den französischen Postmodernen Derrida, Foucault, Barthes und Baudrillard erläutert. Die Einführung betont die Bedeutung einer vierten Wende, nämlich des Spatial Turn, durch den die Geographie als raumbezogene Wissenschaft in den Fokus der Kulturwissenschaften rückt. Allerdings weisen die Autoren selbst darauf hin, daß sich hier ein epistemologisches Problem ergibt: die konstruktivistische, postmoderne Position läßt ja keine Größen außerhalb des diskursiv Strukturierten, des Sprach- bzw. Textförmigen mehr zu. Auch der Raum könnte damit zu einer austauschbaren Größe werden (S. 11). Dennoch steht am Ende dieses Beitrags die Forderung nach einer politisch engagierten Geographie, was die Autoren mit Hilfe von "temporären, arbiträren Stops" realisieren möchten (S. 23). Damit meinen sie "Haltepunkte" in der empirisch faßbaren, räumlichen Welt, in der Ungleichheiten, Grenzen und falsche Dichotomien zu benennen wären. Diese Forderung der Herausgeber wird in den meisten Texten erfüllt. So wird durchgängig die Relevanz der Diskursanalyse betont und auch die Idee einer "Wende" wird in vielen Beiträgen aufgegriffen. Daß dabei auf begrifflicher Ebene ein Schwarm neuer Geographien (Critical Geography, Radical Geography, Andere Geographie, Relationale Geographie, Kulturgeographie der Dinge, nichtessentialistische Geographie, etc.) herauskommt, ist einer neuen wissenschaftlichen Arbeitsrichtung zu konzedieren und dürfte sich als vorübergehendes Phänomen erweisen. Von der Herangehensweise her haben die Beiträge also eine hohe Übereinstimmung, die anhand der oben genannten Autoren auf einen Kanon zurückgreifen kann. Diese Referenzen bilden gewissermaßen Knotenpunkte in dem hier entfalteten Diskurs. Daneben gibt es einen zweiten, von vielen Autoren verwendeten Kanon, der aber nur von einem, nämlich Werlen, explizit benannt wird. Es handelt sich dabei um Roger Bromley und Stuart Hall sowie die Arbeit des CCCS (= Centre for Contemporary Cultural Studies) in Birmingham insgesamt. Die seit 1964 dort entwickelten Cultural Studies bilden gewissermaßen einen Subtext des Sammelbandes. Mit deren Leistungen und deren Schwächen sind auch die Chancen der hier ausgerufenen neuen Geographien zu messen. Die Kritik an den Cultural Studies ist nicht überraschend und wird wenigstens an einer Stelle auch benannt: Werlen stellt klar, daß die Cultural Studies bislang keinen Korpus an überzeugenden Studien vorgelegt haben, die aus dieser neuen Richtung einen allgemein akzeptierten Wissenschaftszweig gemacht hätten. Auch wenn sich die Cultural Studies immer wieder auf die Ethnologie als "Ahnvater" berufen (im vorliegenden Band gehört Clifford Geertz zu den häufig zitierten Autoren), ist das Verhältnis zwischen diesen Fächern nicht so unproblematisch, wie es mitunter scheint. Der Vorwurf der Ethnologie gegenüber den Cultural Studies ist der gleiche, der auch vielen Beiträgen in diesem Band zu machen ist (Howell 1997, Niekisch 2001): die Proklamation des Cultural Turn und die Darlegung seiner Methode sind nicht ausreichend; echte Forschungsthemen und Studien mit entsprechender Resonanz fehlen bislang. Überhaupt erwecken die Herausgeber den Eindruck, der Cultural Turn und die anderen "Wenden" stünden als monolithischer Block neuen Denkens da. In der neueren kulturwissenschaftlichen Literatur ist dies nicht mehr so zu erkennen. Zusammen mit Ulf Hannerz (1993, 1999) und Jonathan Friedman (2002) wären Fragmentierungen zu entdecken und Motive hinter der "Kulturalisierung des Alltags" offenzulegen. Man braucht aber nicht in die neuere kritische Debatte über Kultur und Diskurse einzusteigen, um die Problematik dieses Sammelbandes zu erkennen. Im Vergleich zwischen den einzelnen Beiträgen werden nämlich die Unterschiede in der Positionen einzelner Autoren unmittelbar deutlich. Sie reichen von der bedingungslosen Annahme und der Auffassung nur durch den Cultural Turn habe die Geographie eine Zukunft, (z.B. bei Massey, Belina und Strüve) bis hin zu kritischer Abwägung (z.B. bei Watts und Bohle sowie Werlen). Sahr vermeidet in seinem Beitrag eine Festlegung und bemüht anstelle dessen die Metapher eines "Ozeans der Kultur", in dem das "Schiff" der Geographie es nicht einfach hat, eine eigene Position und eigenen Kurs zu finden. Wegen dieser differierenden Positionen ist auch die thematische Gliederung des Bandes problematisch: Gerade weil die Gegenstände (z.B. "Macht", "Stadt", oder "Natur") dekonstruiert werden, hätten die Herausgeber mit einer Gliederung entsprechend der diskursiven Stellung der einzelnen Beiträge mehr gewonnen. Damit ist eine weitere, grundlegende Problematik genannt. Nur einige wenige haben den im Vorwort genannten Anspruch des Sammelbandes, eine "Lehrbuch" zu sein, ernst genommen. Sie bieten einen Überblick über wichtige neue Entwicklungen ihres jeweiligen Spezialgebiets, etwa Stadtgeographie (Wood), Wirtschaftsgeographie (Glückler und Bathelt), oder Humanökologie (Flitner). Diese Beiträge sind auch Studierenden des Faches zu empfehlen, da sie neben der Geschichte des Fachgebietes bis an die gegenwärtigen Arbeitsgebiete heranführen. Zugleich sind es diese Beiträge, die offenlegen, wie fragwürdig die herkömmlichen Forschungsgegenstände geworden sind. Am Ende bleibt, z.B. in dem Text von Flitner, nicht mehr als die Frage, ob es den Gegenstand noch gibt. Bei vielen anderen Beiträgen wird hingegen keine vergleichbare Übersicht geboten; der Anspruch eines Lehrbuchs wird in diesen Texten nicht erfüllt. Ärgerlich sind außerdem die z. T. ungenauen Bibliographien: So wird in der Einleitung Barthes (2002) "Mythen des Alltags" als Gegenwartsdiagnose präsentiert, ohne den Leser zu informieren, daß dieses Werk im Original im Jahre 1957 vorgelegt wurde und nur wenig später auch in deutscher Sprache verfügbar war. Strüver bezieht sich auf den Begriff der Identität nach "Erikson (2001)". Diese Aussage ist irreführend, da es sich um ein im Jahre 1959 publiziertes und seit 1964 in deutscher Übersetzung vorliegendes Werk handelt. Nicht allen Beiträgen ist dieser Vorwurf zu machen. Ausnahmen sind u. a. Werlen, Soja, Sahr und Helbrecht. Bei letzterer ist immerhin das richtige Publikationsdatum von Walter Benjamins berühmtem Aufsatz ("Das Kunstwerk im Zeitalter...") sowie der "Dialektik der Aufklärung" zu erfahren. Aber dem Text ist nicht zu entnehmen, daß Gadamers "Wahrheit und Methode" bereits 1960 und nicht erst 1990 veröffentlicht wurde. Angesichts der großen Zahl an wichtigen, im Zeitraum 1963-1990 zum Thema Diskursanalyse veröffentlichten Dokumente ist mit dieser Ungenauigkeit eine angemessene Darstellung der Rolle von "Wahrheit und Methode" für die Entwicklung der Postmoderne kaum noch zu erwarten. Auf das unterschiedliche Gewicht der Beiträge wurde bereits hingewiesen. Gerade in einem Werk mit dem Anspruch eines Lehrbuchs ist es aber kaum nachvollziehbar, daß eher thesenhafte Beiträge neben echten Übersichtsartikeln stehen. An die Herausgeber wäre auch die Frage zu stellen, warum die Möglichkeit der Querverweise so unterschiedlich genutzt wurde. Offensichtlich haben neben den Herausgebern nur Sahr und Werlen die anderen Texte intensiv durchgearbeitet. In den übrigen Beiträgen sind kaum Hinweise auf die vor- oder nachstehenden Aufsätze zu finden. Dem Leser wäre deshalb zu empfehlen, mit den drei letzten Beiträgen (Sahr, Werlen und Soja) zu beginnen, um sich dann die Einleitung sowie die genannten Aufsätze mit dem Anspruch eines Überblickstextes anzuschauen. Möglicherweise werden die Herausgeber sich mit dem experimentellen Charakter ihres Sammelbands rechtfertigen und die eingangs angeführte Metapher des "Frühstückskorbes" bemühen. Es ist eben nicht möglich, so wäre in dieser Metapher zu argumentieren, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Aber laufen die einzelnen Beiträge nicht Gefahr, zueinander im Widerspruch zu stehen? Um im Sprachbild zu bleiben: Könnte nicht ein ungenießbares Gemisch entstehen, ohne eine Anleitung zum richtigen Gebrauch der einzelnen Thesen? Der Verzicht auf eine engere Fokussierung der Thesen und auf eine durchgängige Position (z.B. gegenüber der Diskursanalyse) wurde möglicherweise von den Herausgebern bewußt gewählt. Die durch diese Vorgehensweise für den Leser entstehenden Fragen haben sie dann in Kauf genommen. Oder sie verstehen die offenen Fragen als Aufforderung an den Leser, sich selbst ein Urteil über den Stand postmoderner Kulturgeographie zu bilden.
Literatur
Friedman, Jonathan (2002): From Roots to Routes. Tropes for Trippers. Anthropological Theory 2 (1), S. 21-36.
Hannerz, Ulf (1993): When Culture is Everywhere: Reflections on a Favourite Concept. Ethnos 58, S. 95-111.
Hannerz, Ulf (1999): Reflections on Varieties of Culturespeak. European Journal of Cultural Studies 2 (3), S. 393-407.
Howell, Signe (1997): Cultural Studies and Anthropology. Contesting or Complementary Discourses? S.L. Nugent und C. Shore (Hg.): Anthropology and Cultural Studies. London: Pluto, S. 103-125.
Niekisch, Sybille (2001): Cultural Studies und Ethnologie: Zu einem schwierigen Verhältnis. U. Göttlich, L. Mikos und R. Winter (Hg.): Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen.. - Cultural Studies 2. Bielefeld: Transcript, S. 131-158.  
Autor: Hans P. Hahn

Quelle: Geographische Zeitschrift, 92. Jahrgang, 2004, Heft 3, Seite 185-187