Andrea Komlosy: Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie. Wien 2003. 510 S.

"Grenze und ungleiche regionale Entwicklung" - ein Titel wie extra erfunden zum Auslösen eines besitzstandwahrenden Geographen-Reflexes: Schon wieder oder immer noch befasst sich ein Nicht-Geograph mit einem doch genuin geographischen Thema! Und tatsächlich unternimmt es die österreichische Historikerin A. Komlosy, auf der Grundlage v. a. von Regionalwirtschaftstheorien den historischen Wandel des Grenzregimes in seiner Auswirkung auf die regionale Wirtschaftsentwicklung und das Migrationsgeschehen in der k. u. k. Monarchie zu analysieren. Die Untersuchung bezieht sich auf die österreichische Reichshälfte (also ohne Ungarn) und umfasst die Jahre zwischen 1750 und 1914.

Die Analyse legt ein in der Geographie sehr vertrautes Raster an: Zunächst wird die großräumige Arbeitsteilung und die dieser zugrundeliegende Umstellung personenrechtlicher Herrschaftsbeziehungen auf die zentralstaatliche Territorialgliederung und deren Zusammenhang mit Zentrenbildungs- bzw. Peripherisierungsprozessen dargestellt. Die konkrete Ausgestaltung dieser Prozesse mitsamt ihren Auswirkungen
auf das Migrationsverhalten wird sodann in einem zweiten Schritt in einem enger gezogenen Rahmen, im böhmischmährisch-niederösterreichischen Grenzgebiet, beschrieben, woran sich als dritter Schritt die Betrachtung der Entwicklungen in einer Subregion dieses Gebiets, in der Herrschaft Wittingau, anschließt.
Besonders in diesem dritten Teil wird auf der Grundlage des detailliert aufbereiteten Materials (u. a. behördliche Protokolle) ein anschaulicher Einblick in die historischen Veränderungen der Bedeutung von Binnengrenzen und deren Konsequenzen für die lokalen und regionalen Herrschaften, für Unternehmen und nicht zuletzt für die Bevölkerung gegeben. Die schrittweise Aufhebung der Binnengrenzen seit Mitte des 18. Jhs. ist dabei als ein Element der Umstrukturierung politischer Herrschaftsbeziehungen und der Herausbildung ökonomisch relevanter räumlicher Differenzierungen zu verstehen.
Die Autorin präsentiert von dieser Warte aus eine von der betroffenen Bevölkerung nicht eindeutig zu beurteilende Entwicklung: Während für den Adel die Durchsetzung des absolutistischen Staates zur Umwandlung direkter Zugriffsmöglichkeiten auf die (übrige) Bevölkerung in den Status eines lokalen bzw. regionalen Vertreters des Zentralstaats führte, wodurch die politische Dominanz dieser Personengruppe insgesamt nur wenig beeinträchtigt wurde, sah sich die Masse der Bevölkerung sehr widersprüchlichen und zeitlich wechselnden Vorgaben gegenüber. So schwand zwar ab 1750 die personenrechtliche Zuordnung zu einer lokalen Herrschaft, die mit dieser Entwicklung verbundene größere Freizügigkeit für den einzelnen wurde jedoch durch ein konsequent umgesetztes System von Binnenpässen sowie durch die Beschränkung der Gewährung von Sozialfürsorge einzig auf den Herkunftsort modifiziert und eingeschränkt. Erst zum Ende des 19. Jhs. war eine weitgehende Migrationsfreiheit erreicht.
Die Autorin zeigt aber auch sehr deutlich, dass diese Veränderungen der Freizügigkeit weniger ein Ausdruck der Durchsetzung von individuellen (Freiheits-) Rechten waren als vielmehr und in erster Linie mit der Herausbildung einer sich territorial differenzierenden und raumwirtschaftliche Muster und Zuordnungen schaffenden Ökonomie erklärt werden muss. So kann die sehr zögerliche Einführung der Freizügigkeit vor allem mit den Auseinandersetzungen zwischen dem Industriekapital mit seinem Interesse des freien Zugriffs auf Arbeitskräfte, den traditionellen (adeligen) Eliten mit ihrem Interesse an einem konkurrenzfreien Zugriff auf landwirtschaftlich tätige Untertanen und dem Zentralstaat, der beide Positionen mit gesamtstaatlichen Politikzielen im Umfeld der internationalen Machtkonkurrenzen zu verbinden suchte, erklärt werden.
Zum Ende ihres Buches verweist Komlosy auf den Prozess der EU-Integration mit dem schrittweisen Verlust nationalstaatlicher Souveränität zugunsten des größeren Europas und kann hier eine Parallele zur Aufhebung der Binnengrenzen im k. u. k. Österreich ziehen. Insofern kann diese Betrachtung einer abgeschlossenen historischen Periode auch als aufmerksamkeitsleitende Perspektive auf aktuelle Entwicklungen verstanden werden.
Insgesamt leistet die detailreiche und anschaulich formulierte Untersuchung eine hervorragende Bearbeitung des Themas. Für sozialwissenschaftlich arbeitende Geographen ist das Buch dennoch nicht leicht zugänglich, da die anfänglich diskutierten Theorieansätze nicht zur Bildung von Hypothesen, aus denen dann die empirische Analyse abgeleitet wird, herangezogen werden, sondern eher die allgemeine Perspektive der Betrachtungen aufzeigen, während die Empirie der geschichtswissenschaftlichen Tradition mit der umfangreichen Präsentation des Materials und den daraus gezogenen Schlüssen folgt.
Für diejenigen Leser aber, die sich nicht daran stören, trotz eines "typisch geographischen" Themas eine "typisch geschichtswissenschaftliche" Untersuchung vorzufinden, kann dieses Buch wichtige und über das Fallbeispiel hinausreichende Erkenntnisse zu den behandelten Themen vermitteln.
Autor: Wolfgang Aschauer

Quelle: geographische revue, 6. Jahrgang, 2004, Heft 2, S. 97-98