Don Mitchell: Cultural Geography - A Critical Introduction. Oxford 2000. 325 S.

Don Mitchells 2000 bei Blackwell Publ. erschienenes Buch "Cultural Geography - A Critical Introduction" ist, anders als es der Titel vermuten lässt, weniger eine kritische Einführung in die Kulturgeographie als der Versuch, einen umfassenden kulturgeographischen Ansatz in kritischer Perspektive zu begründen. Dass ein solches Anliegen von Mitchell, der an der Syracuse University lehrt, beabsichtigt ist, wird bereits in der Einleitung deutlich: "In the process [des Verfassens des Buches; H.P.], I have learned that it is possible, and even at times enjoyable, to construct and develop a coherent and, I think, political progressive, theory (or set of theories) of cultural geography [Mitchell 2000: xi]."

Neben der Entwicklung einer solchen Theorie verliert Mitchell aber zu keinem Zeitpunkt das wissenschaftliche Umfeld aus dem Auge, es gelingt ihm zugleich eine stimmige Alternative im Feld kulturgeographischer Ansätze zu positionieren wie auch die spezifische (gesellschaftspolitische) Bedeutung dieses Ansatzes zu verdeutlichen. Auch Belina [2003: 84] erkennt diese Relevanz an; er sieht das zentrale Anliegen Mitchells darin, den Kampf um die unterschiedlichen Auffassungen davon, "welche Verhaltensweisen im öffentlichen Raum erlaubt seien und als kulturell angemessen gelten sollen" (Culture Wars), zu thematisieren, "um an ihnen zu untersuchen, welche Rolle ‚Kultur' in der Gesellschaft spielt - dass sie nämlich so seine These, eingesetzt wird‚ im Namen von Macht und Profit'."
Mit "Culture War" verweist Mitchell auf einen Begriff, der 1992 von dem mehrjährigen US-Präsidentschaftskandidaten der ultra-rechten Reform Party als Angriff gegen die Republikaner formuliert wurde [Buchanan: 1992]: "There is a religious war going on in our country for the soul of America. It is a cultural war, as critical to the kind of nation we will one day be as was the Cold War itself." Im Gegensatz zu Buchanan, der mit "Cultural War" die Front zu bezeichnen bestrebt war, an der seine Partei gesellschaftspolitische Reform versprach, um so die von den Republikaner und Demokraten entfremdeten Teile der Bevölkerung für seinen Wahlkampf zu gewinnen, benutzt Don Mitchell den Begriff politisch neutral. "Kultur" besitzt keine ontologische Basis, so seine Argumentation: "People do not ‚have' culture. Nor do ‚cultures' simply and autonomously exist, as something real, solid, and permanent. Instead there is only very powerful ideology of culture, an ideology that asserts people do this or do that because of ‚culture'; or, at the very least, asserts that ‚culture' exists as a realm, level, or medium of social interaction [Mitchell 2000: 12]." Kulturen werden von Interessengruppen zum Zweck der Bestimmung von Identität zwischen ihren Mitgliedern bzw. Differenz zu anderen Interessenträgern formuliert. Mitchells Kulturbegriff ist somit sprachpragmatisch und gesellschaftskonstruktivistisch orientiert. Dabei beinhaltet "Kultur" einen doppelten Wertverweis. Einerseits werden über den Kulturbegriff spezifische Wertvorstellungen einer gesellschaftlichen Gruppe reflektiert, andererseits unterliegt die Formulierung einem spezifischen wirtschaftspolitischen Interesse [Culture Industries; Adorno u. Horkheimer 1993: 32-3]. Dabei werden ideelle Werte in Produkten manifestiert: "One of the jobs of culture industry is precisely to constantly draw and redraw, blur and obfuscate, that line between image and thing, to make something desirable precisely because of the image it projects [...]. The value of the idea of culture is that it can be used to represent and reify social and geographical difference by obfuscating exactly the thing that makes connectedness: the workings of the global political economy [Mitchell 2000: 81f]." Zugleich aber sind mit den Vertretern dieser wirtschaftlichen Interessen Gruppen verknüpft, die im täglichen gesellschaftlichen Leben die Macht besitzen, Werte für Kulturen zu definieren. Über die Bestimmung der Möglichkeiten der Aneignung von ideellen Werten bestimmt die "critical infrastructure" zugleich die Möglichkeiten des Individuums, sich in derart definierte Kulturen zu integrieren: "The job [...] is to implement ideas about culture, and to solidify ways of life in place, by showing us taste and style, by producing the image and things by which we come to know ourselves and our places in the world [83]." Die Aufgabe des Kulturwissenschaftlers respektive Kulturgeographen liegt nun, so Mitchell, nicht einzig darin, bestehende Kulturen zu beschreiben, wie es noch in der Kulturgeographie Carl Sauers der Fall war; auch reicht es nicht aus, die Art zu erfassen, wie die Landschaft symbolisch besetzt und reflektiert wird, wie es nach Mitchell das Hauptanliegen der New Cultural Geography ist [vgl. Mitchell 2000: 74 u. 84f]; die spezifische Gesellschaftsrelevanz seines eigenen Ansatzes sieht Mitchell darin, dass er dem Kulturgeographen ein Mittel in die Hand gibt, die wirtschaftspolitischen Interessen, die gewöhnlich von den Vertretern dieser Interessen verschleiert werden, aufzudecken, um so zu einer näheren Beschreibung derjenigen Kräfte zu gelangen, die in den "Culture Wars" manifest werden. Darüber hinaus wird im Gesamtkontext des Buches das politische Bestreben des Autors deutlich, über die Aufklärung der wirtschaftspolitischen Verknüpfung bei der Produktion von Ideologien im kulturellen Kontext eine gesellschaftsübergreifende reflexive Praxis im Umgang mit kulturellen Werten zu inspirieren.
Über die Erörterung bestehender Kulturgeographien und die Entwicklung seines hier nur grob umrissenen Ansatzes einer eigenständigen Kulturgeographie hinaus verdeutlicht Mitchell seine Theorien anhand eines weit gestreuten Spektrums von geographisch und gesellschaftspolitisch thematisierten Beispielen: der Wechsel der Symbolisierung der Landschaft nach dem Zugrundegehen der Hüttenindustrie in Johnstown/Pennsylvania in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die Verlagerung von Bezirken des Chinatowns von Vancouver, die Thematisierung und Manifestierung klassischer amerikanischer Werte in der Park Meadows Mall in Denver/Colorado, Darstellung und Widerstand gegen Ideologien auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) in Peking oder bei politischen Veranstaltungen unter dem Nazi-Regime oder die Verlagerung von Wohnvierteln Homosexueller in San Francisco sind nur ein paar der mit durchgehender Sorgfalt ausgearbeiteten Darstellungen der ökonomisch bestimmten Symbolisierung von Landschaft oder des Kampfes zwischen Kulturen und Subkulturen, in deren Kontext die aufeinanderstoßenden Differenzen bezüglich der von den unterschiedlich beteiligten Gruppen vertretenen Werte fassbar werden. Mitchells Versuch, Kultur von der Seite der Nutzung des Begriffs sprachpragmatisch zu erfassen und gleichzeitig die intendierte Konstruktion von Kulturen zu beschreiben, ist eine wissenschaftstheoretisch zweischneidige Herangehensweise. Einerseits stellt sie ein weit über die eigentliche Geographie hinausgehendes Instrumentarium zur Beschreibung der dem gesellschaftlichen Wandel zugrundeliegenden Prozesse zur Verfügung, das sowohl die Möglichkeit interdisziplinärer Diskurse mit den benachbarten Kulturwissenschaften eröffnet wie auch einen Schritt mehr dazu beiträgt, die im sozialwissenschaftlichen Kontext häufig als bezüglich des Theoretisierungsniveaus zurückstehend verurteilte Sozialgeographie zu reformulieren, andererseits macht das weitestgehende Fehlen von Basisdefinitionen die Kohärenz des Ansatzes im hohen Maße angreifbar. Mitchell ist sich der Problematik dieser Unbestimmtheit allerdings bewusst und verdeutlicht gerade im Zusammenhang mit Begriffen wie "Kultur", "Ideal" oder "Wert" die Notwendigkeit relativer Bestimmungen: "The sociologist of science Bruno Latour explains that the production of knowledge (like knowledge about culture) is a process in which unstable ‚lists' of activities and process, possessing no real morphological definition, are struggled over by contending parties seeking to define the world in their own terms. When one party proves victorious (for whatever reason, but always having to do with gathering the power to make its claims stick), the list becomes reified; they become reality [Latour 1987: 201 nach Mitchell 2000: 77]." Somit unterliegt Wissenschaft im gleichen Maße dem Kampf um die Zuweisung und Festigung von Bedeutungen wie dies in der alltäglichen gesellschaftlichen Realität in den "Culture Wars" der Fall ist. "Cultural Geography - A Critical Introduction" ist neben der hier kurz angerissenen Probleme ein durchgehend konsistentes Werk, das eine hohe Beachtung verdient. Dies gilt nicht nur aufgrund der Eigentümlichkeit von Mitchells "System von Theorien" sondern auch aufgrund der vielseitigen Erörterung seines Ansatzes anhand lebensnaher Problemfelder. Darüber hinaus gelingt es Mitchell in seiner auf der Diskussion Sauers und der New Cultural Geography aufbauenden Argumentation für die Kulturgeographie ein Forschungsfeld zu skizzieren und einen methodischen Zugriff auf die Gesellschaft zu formulieren, der allein aufgrund seiner für die Geographie beinahe einzigartigen gesellschaftspolitischen Relevanz nicht außer Acht gelassen werden darf.
Literatur
Adorno, Theodor, Max Horkheimer 1993: The Culture Industry: Enlightenment as Mass Deception. In: Simon During (Hg.): The Cultur Studies Reader. London (Nachdruck).
Belina, Bernd 2003: Kultur? Macht und Profit! - Zu Kultur, Ökonomie und Politik im öffentlichen Raum und in der Radical Geography. In: Hans Gebhardt u. a.: Kulturgeographie - Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Heidelberg u.a. 2003.
Buchanan, Patrick J.: The Cultur War for the Soul of America. http://www.buchanan.org/pa-92-0914.html.
Latour, Bruno 1987: Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society. Cambridge.
Autor: Holger Priebe

Quelle: geographische revue, 6. Jahrgang, 2004, Heft 2, S. 103-106