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Kategorie: Rezensionen

Marc Boeckler: Geographien kultureller Praxis. Syrische Unternehmer und die globale Moderne. Bielefeld 2005. 340 S.

Der Autor begibt sich mit seiner Diss. auf bislang scheinbar sicheres, aber heute umso trügerisches Territorium. Nicht nur der wissenschaftliche Umgang mit den Ländern und Menschen des Orients hat sich seit der Rezeption der Orientalismus-These von Edward Said geändert, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Länder hat sich aufgrund der derzeitigen politischen und terroristischen Ereignisse mehrfach kompliziert. Die Einleitung des Buches beschäftigt sich mit "Ordnungen und Warnungen". Der Autor will dabei den Leser auf die theoretischen Überlegungen und den Gegenstand der empirischen Forschungen einstimmen und vor überzogenen Erwartungen sowie vor der eigenwilligen Präsentation der Studie warnen. Bereits in der Einleitung fällt der ausgreifend elegante und spannend subversive Schreibstil des Verfassers auf. Das Ziel der Studie sieht er in der Konstruktion einer Ordnung der Dinge, aber die Ordnung ist nicht mehr das Ziel, sondern der Weg; das methodische Zugehen auf die Erkenntnis sollte geordnet sein, aber Verunordnung erzeugen. Der Autor versucht dem Leser bereits zu Beginn die mögliche Kritik an der Arbeit zu präsentieren, damit sich der Leser, so ist zu vermuten, auf den Text einlassen kann und sich nicht auf der Suche nach möglicher Kritik den Blick auf die dargelegte Erkenntnis verstellt. Insbesondere die Warnungen zu den Schlagworten Unternehmer, Tagebuchkrankheit und Stilistisches sowie Mezze, die auf die differenzierten Ausführungen und die Kompositionen des Buches verweisen, erweisen sich beim Lesen als die Stärken des Buches.
Im zweiten Kapitel versucht der Verfasser unter dem Titel "Kulturelle Geographien?" das Verhältnis von Theorie und Empirie sowie die Beziehungen zwischen Kultur und Praxis zu bestimmen. Er stellt dabei die Praxis der Trennungen und Verbindungen sowie die Dynamik von Globalisierung und Entterritorialisierung vor. Die Ausführungen werden beschlossen mit der Konzeption des Welt-Ortes. Souverän kämpft sich der Autor durch die modernen und modernistischen Philosophien und Wissenschaftstheorien, ohne dabei sein Ziel - "Wie finde ich meine Aufgabe und wo ist der Weg, meine Aufgabe zu lösen", kurz "Was ist mein Job?", aus dem Blick zu verlieren. Die Antwort lautet: Es geht darum, eine "kulturelle Geographie diakritischer Praxis" des syrischen Unternehmers zu schreiben. Nach dem philosophischen Vordenken zur Untersuchung wird der Verfasser im dritten Kapitel konkreter und skizziert die "Zentrale Denkfigur der Moderne auch für den Orient": Er entwirft den (halbierten, territorialisierten und imaginierten) orientalischen Unternehmer und spannt damit theoretisch die Fäden, in die er die empirischen Befunde im Verlauf seiner Arbeit einbinden und einwickeln wird. Die konkrete theoretische Konzeption der Arbeit schält sich heraus und wird sichtbar. Im vierten Kapitel breitet der Autor seine Forschungen mit syrischen Unternehmern aus und offenbart dabei seine methodische Vorgehensweise: Freunde haben und ihre Freundschaft, ihre Gespräche und ihre Leidenschaften fruchtbar machen für Geographien unter Einbezug der theoretischen Vorstellungen über Unternehmer und in Reflexion auf die bereits ausgebreiteten Probleme und Konzepte. Das Kapitel "Syrische Liberalisierungen" schildert die vielfältigen Rahmenbedingungen des unternehmerischen Handels in Syrien. Dabei bleibt die Betrachtung nicht auf der Stufe der Rahmenbedingungen im Sinne einer handlungsorientierten Geographie stehen, sondern bindet verzweigte politische und kollektive gesellschaftliche Erfahrungen sowie individuelle Widerfahrnisse mit in die Darstellung ein. Der Plural, der auch hier in der Kapitelüberschrift auftritt, wird zu einem Merkmal der Studie. Im zentralen sechsten Kapitel verzichtet der Autor aufgrund methodischer und theoretischer Bedenken auf die klassische Typisierung von Unternehmern und stellt dagegen die Praxis der neuen syrischen Unternehmer in den Vordergrund. Danach schildert er Begründungsgeschichten, um abschließend die kulturalisierenden Zuschreibungen der Unternehmer selbst im Kontext von Kultur und Kulturalisierung zu thematisieren.
Als Genuss der Extraklasse liest sich das wichtigste Kapitel der Studie: "Ummauerte Unternehmungen: Auf den Spuren diakritischer Praxis". Dem Autor gelingt es, die Praxis der Ummauerung in der syrischen Gesellschaft, die nicht nur von Unternehmern getätigt wird, sondern in sehr vielen Lebensbereichen der Menschen in und aus Syrien zu finden ist, zu thematisierten. Die wissenschaftliche Studie wird zu einer originären geographischen Arbeit. In diesem Kapitel offenbaren sich die wahren Fähigkeiten von Marc Boeckler: Er zeigt am Beispiel syrischer Unternehmer in Syrien, wie man zu Zeiten der Postmoderne im 21. Jahrhundert Geographie (be-)treiben kann und muss. Es gelingt ihm, in diakritischer Praxis die lebensweltlichen Verhältnisse erklärend in seine Arbeiten einzuschließen. Dabei kann nur unzureichend darauf hingewiesen werden, dass der Autor schon fast mit einer unzumutbaren Penetranz immer bei der Schilderung empirischer Sachverhalte die Nähe und Verwicklung zur theoretischen Reflexion sucht und einhält. Damit fällt die Darstellung der empirischen Daten nie aus den aufgespannten theoretischen Fäden und metapherähnlichen Netzwerken heraus, sondern sie dienen dazu, die theoretischen Säulen zu stützen bzw. erst sichtbar zu machen. Im Schlusskapitel "Kulturelle Geographien syrischer Unternehmer" fasst der Autor in gebotener Kürze seine "Grenzarbeit" als "kulturelle Geographie der globalen Moderne" zusammen. In der Figur des Unternehmers verschränken sich für ihn multiple Narrative abendländischer Modernität. In Kürze lässt sich die Arbeit so beurteilen: Exzellente theoretische Reflexion, außerordentliche Konzeption und stilistisch elegante Präsentation sowie ein beispielloses Gewebe von Reflexion, Theorie, Empirie und Metapher. Jeder, der wissen will, was kulturelle Geographie bedeuten kann, sollte zu diesem Buch greifen!
Autor: Anton Escher

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 49 (2005) Heft 2, S. 124-126