Stefan Krätke und Renate Borst: EU-Osterweiterung als Chance: Perspektiven für Metropolräume und Grenzgebiete am Beispiel Berlin-Brandenburg. Münster 2004 (Beiträge zur europäischen Stadt- und Regionalforschung 1). 220 S.

Europa erlebt gerade eine sehr schwierige Phase im Er- und Ausleben des Gedankens bzw. der Realisierung des Integrationsprozesses. Sicher gibt es viele wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche, alltäglich erlebbare Begründungen dafür, warum viele Menschen mit dem "europäischen Projekt" gleichermaßen große Hoffnungen und große Ängste verbinden. Offenbar jedoch wird ein Defizit an realitätsnaher, für die Menschen nachvollziehbarer, kompetenter Information zu den Herausforderungen, Chancen und Problemen des Integrationsprozesses in Europa. Damit unübersehbar verbunden sind auch Forderungen an wissenschaftliche Expertise vieler hierfür relevanter Disziplinen, auch der Geographie.

Vor diesem Hintergrund bekommt die Einrichtung einer neuen wissenschaftlichen Reihe unter dem Titel "Beiträge zur europäischen Stadt- und Regionalforschung" ein noch größeres Gewicht. Ihr Anliegen, der europäischen Raumforschung in Theorie und Praxis ein Veröffentlichungsforum zu bieten, das vornehmlich Arbeiten mit einer integralen sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Städte und Regionen berücksichtigt, kann als eine geradezu ideale Reaktion auf diese Anforderungssituation gelten.
Mit dem vorliegenden ersten Band in dieser Reihe unter der Überschrift "EU-Osterweiterung als Chance: Perspektiven für Metropolräume und Grenzgebiete am Beispiel Berlin-Brandenburg" aus dem Jahr 2004 wird der EU-Erweiterungsprozess im Kontext wirtschaftlicher Integrationspotenziale, Entwicklungsrealitäten und Perspektiven in den Fokus vornehmlich empirischer Analyse und Bewertung genommen. Beispielhaft aufbereitet an der Region Berlin-Brandenburg werden existierende, sich verändernde und möglicherweise zu erwartende Muster interregionaler Wirtschaftsverflechtungen im "Europa der 25" über ein relationales Herangehens- und Beurteilungskonzept untersucht und diskutiert. Damit greifen die Autoren einen hochaktuellen Themenkreis auf, der in der geographischen Publikationsübersicht bisher keinen ihm angemessenen Rang einnimmt. Die letztlich spannendste Frage für den interessierten Leser: Kann die deutsche Hauptstadt, kann die Hauptstadtregion - und mit ihr die grenzüberschreitende ostbrandenburgisch-westpolnische Region - aus wirtschaftsgeographisch-regionalwissenschaftlicher Perspektive vom EU-Erweiterungs- und Integrationsprozess in besonderem Maße oder in gleicher Weise wie andere Metropolräume in Deutschland profitieren? Wie, welche Branchen, welche Teilräume, wie umfangreich und intensiv, in welche Richtungen, mit welchen Chancen für die Zukunft? Wie ist das mit der Perspektive einer "europäischen Kompetenz-Region" Berlin-Brandenburg und deren Einbettung in das neue Leitbild der Zusammenarbeit in der Raumentwicklung mit dem "deutsch-polnischen Haus" (Fünfeck Berlin-Dresden-Wroclaw-Poznan-Szczecin)?
Die Studie sucht in sieben Kapiteln - den Untersuchungsverlauf nachzeichnend - dem Leser Antworten anzubieten. Den Ausgangspunkt der Bearbeitung bildet der fachwissenschaftliche Diskurs zu regionalwirtschaftlichen Perspektiven der EU-Osterweiterung (Kap. 1), in dem neben der regionalen und strategischen Dimension dieses Prozesses und den regionalen Entwicklungsdifferenzen in den Beitrittsländern vor allem die besonderen Entwicklungsbedingungen und Konzepte der Wirtschaftskooperation im deutsch-polnischen Grenzraum theoriebasiert thematisiert werden. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Auseinandersetzung mit dem Mythos "Maquiladora" als Vorbild für "Zwillingsbetriebe" beiderseits der Grenze. Das zweite Kapitel thematisiert die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen in raumdifferenzierender Perspektive. In ihm identifizieren die Autoren die Standortregionen in Deutschland, von denen die "fortgeschrittenen Formen" (S. 34) grenzüberschreitender Wirtschaftsverflechtung mit dem Nachbarland Polen (meint: Direktinvestitionen in Verbindung mit der Verankerung eigener Organisationseinheiten dort) ausgehen, beschreiben das regionale Verteilungsmuster der Direktinvestitionen in Polen und vervollständigen dies um konkrete Aussagen zu den beteiligten Branchen. Die regional vorhandenen Wirtschaftspotenziale in Berlin-Brandenburg und Westpolen werden im anschließenden Kapitel detailliert in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung genommen. Die Untersuchung konzentriert sich auf den Status quo für Berlin und Brandenburg im Rahmen der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen, auf die Problematik der Abgrenzung des Beispielraumes Berlin-Brandenburg und Westpolen bzw. deren Teilräume und auf die Skizzierung der Bevölkerungsentwicklung, der Arbeitsmarktlage, der Wirtschaftsleistung und regionalwirtschaftlichen Produktivität sowie der Wirtschaftsstruktur mit Schwerpunkt auf industrieller Branchenstruktur hinsichtlich arbeits-, technologie- und wissensintensiver Ausrichtung, Betriebsgrößenstruktur und Forschungspotenzialen in diesen Teilarealen. Im Kapitel vier gehen die Autoren der Frage nach, ob und wie sich die Wirtschaftsbeziehungen von Unternehmen aus Berlin-Brandenburg nach Polen bzw. nach Westpolen von denen aus ausgewählten Metropolräumen Deutschlands in das Nachbarland unterscheiden. Zudem werden Formen und Motive des Polen-Engagements der Berliner und Brandenburger Unternehmen hinterfragt. Während sich Kapitel fünf ausschließlich auf die institutionelle Unterstützung der deutsch-polnischen Unternehmensbeziehungen in der Region Berlin-Brandenburg konzentriert, setzt sich das darauf folgende mit den grenznahen Folgen und Problemen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit im Zuge der Osterweiterung (z. B. Migration, Pendelwanderung, Beschäftigung, Niederlassung von Polen nach bzw. in Deutschland) auseinander.
Die Studie schließt mit einer zusammenfassenden Bewertung der grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen der Region Berlin-Brandenburg und mit der Offenlegung daraus entstehender möglicher Entwicklungsstrategien im Kontext der EU-Osterweiterung (Kap. 7).
Am Ende ist - nicht wirklich überraschend - klar: "Profitieren werden vor allem strukturstarke Regionen im Innern der alten EU wie auch der Beitrittsländer, einschließlich der großen urbanen Wirtschaftszentren in grenznaher Lage der Nachbarländer Deutschland und Polen (Berlin, Dresden, Poznan, Wroclaw, Sczcecin), wohingegen die strukturschwachen Regionen des engeren Grenzraumes an der derzeitigen EU-Ostgrenze nur in dem Maße aus der Erweiterung Vorteile ziehen können, wie es ihnen gelingt, ihre endogenen Blockaden hinsichtlich grenzüberschreitender Wirtschaftskooperationen zu überwinden"(S. 204).
Am Ende ist - überraschend - klar, die Region Berlin-Brandenburg verfügt bei Unternehmensverflechtungen mit Polen über ein bemerkenswert "zukunftsträchtiges" Profil und besitzt gute qualitative Chancen im deutschlandweiten Wettbewerb. (Beispielsweise wird der Anteil der Unternehmensverflechtungen mit Polen im Bereich technologie- bzw. F&E-intensive Branchen nur von Stuttgart übertroffen, bei den qualifizierten Unternehmensdiensten erreicht Berlin im Vergleich zu allen anderen Metropolräumen Deutschlands gar den höchsten regions-internen Anteilswert.) Allerdings existieren deutliche Unterschiede auf deutscher Seite zwischen dem Metropolraum Berlin und dem Grenzraum Ostbrandenburg sowie auf der Seite Westpolens zwischen dessen Ballungsräumen Wielkopolskie/Poznan sowie Dolnoslaskie/Wroclaw und den direkt an Brandenburg angrenzenden Wojewodschaften Lubuskie und Zachodniopomorskie. Den Unternehmen in der Region Berlin-Brandenburg ist bei der Entwicklung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen mit Westpolen von einer defensiven "Low-cost-Strategie" (Standort-Kostendifferenzierung) abzuraten. Die Nutzung der Chancen aus der EU-Erweiterung werden für die Mehrzahl von ihnen in offensiven "kompetenzorientierten" Strategien (Standortqualifizierungen) zu finden sein.
Am Ende steht ein wissenschaftlich interessantes Plädoyer der Autoren für die wirtschaftliche Einbettung der ostdeutschen bzw. Berlin-Brandenburger Region und der westpolnischen Regionen in ein "weiträumigeres" grenzüberschreitendes programmatisches Raumkonstrukt mit größeren Entwicklungschancen für alle beteiligten Gebiete. Sie empfehlen politische Initiativen zur Stärkung eines wirtschaftspolitisch zusammenarbeitenden deutsch-polnisch-tschechischen Städtenetzes (Konzept des "deutsch-polnisches Hauses" plus Prag), von welchem positive Impulse auch auf die Räume zwischen ihnen und damit auch auf die Grenzräume für die Aktivierung von Wirtschaftsakteuren ausgehen können (S. 201 f.). Die Region Berlin-Brandenburg hätte in diesem programmatischen Verflechtungsraum gute Chancen, sich zum Kompetenzzentrum für Ost-West-Kooperationen zu qualifizieren und damit seinen wirtschaftlichen Nutzen aus einem zusammenwachsenden Europa zu ziehen.
Kritikpunkte an der vorliegenden Studie verbinden sich einerseits mit dem theoretisch-konzeptionellen Vorgehen und andererseits mit der Lesbarkeit des Textes. Die akzentuierte Auseinandersetzung mit dem Mythos "Maquiladora" als Vorbild für "Zwillingsbetriebe" beiderseits der Grenze - der in Anerkennung der Realitäten an der deutsch-polnischen Grenze als zukünftiges Szenario entzaubert wird - ist anerkennenswert. Die gezielte Einbeziehung weiterer Erklärungsansätze für das Internationalisierungsverhalten deutscher bzw. Berlin-Brandenburger Unternehmen in Polen bzw. Westpolen wäre interessant gewesen. Für den Leser als sehr ermüdend erweisen sich die überdimensional auftretenden inhaltlichen Redundanzen, die bei Vorwegnahme einiger Untersuchungsergebnisse bereits im ersten Kapitel vorprogrammiert sind.
Ein besonderes Verdienst der Studie besteht in der bis dato einmaligen, umfangreichen Informations- und Datendokumentation zum Themenfeld. Neben der gezielten Nutzung und Auswertung von Sekundärdaten aus einer großen kommerziellen Firmendatenbank - in der mit Stand Oktober 2003 insgesamt 980 deutsche Unternehmen ermittelt werden konnten, die insgesamt 618 Tochterunternehmen, Beteiligungen bzw. Niederlassungen in Polen haben - führten die Autoren zudem eine Primärdatenerhebung mittels einer schriftlichen Befragung bei 39 Unternehmen in der Region Berlin-Brandenburg zu Formen, Motiven und Auswirkungen ihres Polen-Engagements durch. Nachfolgende Untersuchungen werden aus dem Fundus vorgelegter empirischer Ergebnisse schöpfen können und ihn zu schätzen wissen. Allen an wirtschaftlicher Entwicklung in der Hauptstadtregion und in ostdeutschen Grenzgebieten zu Polen Interessierten ist die Studie zur Lektüre nachdrücklich zu empfehlen.
Autorin: Bärbel Leupolt

Quelle: Geographische Zeitschrift, 93. Jahrgang, 2005, Heft 4, Seite 254-256