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Kategorie: Rezensionen

Peter Jüngst: "Raubtierkapitalismus"? Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte. Gießen 2004 (Reihe Psyche und Gesellschaft). 262 S.

Geht es denn nun um Öl im Irakkrieg und im Iran und anderswo oder geht es um Freiheit/ Demokratie/ Rechtsstaat oder geht es um die Prävention gegen transnationalen Terrorismus? Oder geht es um den globalen Privatkrieg von evangelikalen US-"Neocons" im manichäischen Paradigma von Schwarz und Weiß? Geht es also um weltweite Verteilungsprobleme oder um ethisch-politische Letzt-Werte oder um global wirksamen Fundamentalismus? Was sind die Motivationen der Akteure wirklich?

Das sind Fragen, die in der laufenden Ära der Neuordnung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges und nach Nine-Eleven oft gestellt, aber nicht abschließend geklärt oder beantwortet werden können; hilfsweise und hilflos heißt es dann oft: "Wir wollen nun wieder nach vorne blicken." - Ähnlich fruchtlos wäre die Frage nach der Moral der Dialektik von Gewinnmaximierung im global verschiebbaren Geldkapital (aktuell z.B. der Deutschen Bank) und der gleichzeitigen Massenentlassung von Angestellten - moralisch fruchtlos jedenfalls, wenn dem die paranoid-schizoide Orientierung der "Gier" zugrunde liegt. Man darf sich gleichzeitig nicht wundern, wenn dieses paranoid-aggressive Reaktionen in fundamentalistischen und nationalistischen Strömungen etwa in der "Dritten Welt" generiert und damit zu einer weiteren Spaltung der "Einen Welt" führt.
PETER JÜNGST unternimmt den absolut lohnenden Versuch, die angenommene Dialektik von ökonomischen Prozessen und der womöglich determinierenden psychosozialen Dynamik bei territorialen, nationalen oder kulturellen Konflikten bewusst zu machen. (Damit verzichtet er auf die stets zu kurz greifende Untersuchung der Oberfläche von Konflikten unter bloß ethnischen oder kulturellen Etikettierungen.) Seine These ist zweitens, dass psychosoziale Prozesse regionale Konflikt- und Krisensituationen mitbestimmen und eskalieren. Seine dritte und vielleicht bedrohlichste These ist, dass die effiziente Beforschung der Dingwelt und Technikentwicklung für den Umgang mit der Natur nicht etwa zur Problemlösung (etwa bei Verteilungsproblemen) genutzt werden, sondern ihrerseits in psychosozialen Prozessen zur Steigerung disparitärer Entwicklungen und bestehender Konfliktsituationen eingesetzt werden (z.B. durch die neuen Informations- und Kommunikationstechniken).
Wenn die entscheidungsmächtigen Akteure wirklich paranoid und schizoid sind, braucht man gar nicht erst - jedenfalls nicht zuerst - nach rationalen Gründen des Handelns zu fragen, nicht nach Abwägung und Interessenausgleich, auch nicht nach ökonomischer, historischer oder geographischer "Vernünftigkeit". Der Fokus liegt dann nicht mehr auf einem solchen Maßstab von rational choice, sondern auf den psychosozial begründeten Bewertungen, die die Akteure aus ihren Gründen vornehmen. (Das ist übrigens im Prinzip auch das Paradigma der Neuen Kulturgeographie, die von den subjektiven Bedeutungen der Dinge in der äußeren Realität und entsprechender Handlungsorientierung ausgeht, aber nicht mehr von den Dingen "an sich", anders ausgedrückt: von der Strukturation der Wirklichkeiten und vom "Geographiemachen" durch die Akteure.)
Theoretische Ausgangsposition ist der angloamerikanische "objektbeziehungstheoretische" Ansatz der Psychoanalyse, wonach sich die Bezüge zu Objekten aus frühen Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen bilden und internalisiert werden; die - libidinösen oder aggressiven - Gestimmtheiten werden später auf andere personale und dingliche Objekte übertragen. Schizoid wird die Prägung durch gespaltene (Lust- und Unlust-) Erfahrungen mit der Mutter, die in einer Spaltung zwischen nur-"guten" und nur-"bösen" Objekten münden, zugleich im Nebeneinander von Gefühlen der eigenen Minderwertigkeit und der eigenen Überhöhung. Psychosozial werden diese Positionen im Subjekt dadurch, dass sie in Containern von Wertsystemen und Mythenkomplexen/Ideologien deponiert und damit auf eine intergruppale oder gar zwischenstaatliche Ebene verlagert werden. Das kann in
Krisen auch zur kollektiven Regression und zum manifest-zerstörerischen Konflikt mit dem "Anderen" und damit dem "Feind" eskalieren (vgl. "ethnische Säuberungen", "Geographies of Exclusion").
Die Gruppe übernimmt die mütterliche Imago und das familiäre "Wir"; Unüberschaubarkeit und Anonymität werden durch ein fortwährendes "response bombardement" von Seiten der Großgruppe tragbar gemacht. Dadurch bleibt der Einzelne latent in lebensgeschichtlich frühen Positionen. Sie äußern sich jetzt in Kampf-Flucht-Gestimmtheiten oder in Gestimmtheiten der Abhängigkeit und "narzistischen" Verschmelzung. Institutionen, Bürokratie und Regeln sorgen dafür, dass sich strukturierte Gruppensituationen entwickeln und basale Ängste vor dem enormen Druck und Bedrohungen in der äußeren Welt (und damit zugleich der "Anderen") gemindert werden. Beispiele sind - neben dem "11. September" - vor allem die alltäglichen existentiellen Wettbewerbssituationen von Firmen in der globalen Wirtschaft. Diese werden zum Übertragungsgegenstand.
"Interessen" erscheinen als kompromisshafter Ausdruck der paranoid-schizoiden Wunsch-Angst-Konstellation der Gruppenmitglieder, im intrapsychischen System des "Wir". Eine Krise entsteht besonders dann, wenn Wunscherfüllung nicht mehr gelingt, durch Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen (z.B. ökologische Krise), durch Versagen der alten Produktionsformen (z.B. Postfordismus, Überproduktionskrisen), durch Veränderung der Bezüge zu anderen Gesellschaften (z.B. Suche nach einem neuen "Reich des Bösen"), durch politische und kulturelle Schwäche der eigenen Gesellschaft.
Rechtliche und vertragliche Regelungen werden dereguliert, Produktion wird flexibilisiert, Handel wird subventioniert, Gewinne werden transferiert, Sozialstaatlichkeit wird reduziert, kurz: Die global wirksame flexible Kapitalakkumulation mit dem bestimmenden Prinzip der "Gier" löst alte regionale und soziale Gleichgewichte auf. Unternehmerische Freiheit und politische Gestaltbarkeit gehen zunehmend verloren, Werteschaffen bezieht sich automatisch und kurzfristig auf shareholder values. Wachstum, Positionierung und Überleben werden eins. Das Management wird in eine paranoid-schizoide Denk- und Handlungsweise gedrängt. Die Strategien werden "verkriegert" (z.B. "feindliche Übernahme", "Einverleibung", kannibalistische Zerlegung des Konkurrenten) und dehumanisiert. Die äußere Realität wird nur noch reduziert und entsprechend den inneren psychotischen Ängsten in allseitiger Aggressivität wahrgenommen. Der blinde Glaube an Macht, Erfolg und Überlegenheit untergräbt die Fähigkeit zur Selbsterhaltung, begleitet von Flucht in Drogen und Krankheit oder sublimiert in Größenphantasien.
Der Charakter der Gesellschaftlichkeit nach innen und außen wird verändert; die Weltgesellschaft wird neu fraktioniert. Eine hoch dynamisierte äußere Realität wird labilisiert, psychosoziale Kompromisse werden aufgelöst. Forschung und Technik tragen dazu materiell bei: Atom-, Gen-, Medien- und Kontrolltechnologien bestimmen die Richtung und sind ihrerseits determiniert durch Märkte und politische Tendenzen.
Paradigmatisch für diese psychosoziale Strukturierung ist die US-amerikanische Gesellschaft, ausgehend von der frontier-Bewegung des go-west, sind die USA typischerweise von philobatischen Strebungen beherrscht: moving ist soviel wie moving up, Stillstand ist eine Sünde, stabile Objektbeziehungen werden nicht gebildet, Landschaften und fremde Völker und Kulturen werden erobert und aggressiv-destruktiv behandelt, Erfolg ist das einzige, was zählt - mit spezifischen Konsequenzen für die Territorialität und die symbolischen Präsentationen. Dies ist verankert bis hinein in die Institution der Pensionsfonds, von deren Rentabilität ein Großteil der Altersversorgung abhängt, und die schon existentiell keinerlei Emotionen und Solidaritäten gegenüber Anderen zulässt. Das Prinzip des hire and fire führt dazu, dass die Wirtschaft die beherrschende gesellschaftliche Instanz der Über-ich-Bildung ist (BOURDIEU hat dafür den Begriff der "Flexploitation" geprägt.). JÜNGST spricht insofern von den USA als psychokulturellem Apriori.
Die unvermeidbare Konfrontation auch der Entwicklungsländer mit der westlichen Welt hat einschneidende Wirkungen, entweder "gelingt" die "nachholende Entwicklung" in Richtung Turbokapitalismus/-liberalismus oder die Gesellschaften versinken in Stagnation und Chaos. Die westlich dominierten globalen politischen Gremien sorgen für passende ökonomische und politisch-soziale Strategien, endogen und exogen. Die hohe Akzeptanz des westlichen Wirtschafts- und Sozialcharakters (inkl. Statussymbolen, Wertorientierungen und Lebensstilen) wird zur Dominante aller Konstruktionen. So fügen sich Kolonialismus und Neokolonialismus zur endogenen psychosozialen und psychogeographischen Konstellation von Entwicklungsländern. Dass die Systeme in der Dritten Welt, im subsaharischen Afrika ebenso wie in panslawistisch oder islamisch geprägten Regionen, nicht vollständig destabilisiert werden, versuchen autoritäre Regimes mit Hilfe der kollaborierenden sog. "Eliten" und mittels repressiver Strukturierungen zu verhindern. Auch religiöse Vorstellungen werden in Krisensituationen funktionalisiert und als sublimierte Aggression von Einzelnen und Kollektiven wirkungsmächtig. So geraten die westlichen "Kreuzzüge" und der politisch-islamische Djihad wechselseitig zu einem "gewählten Trauma" und gehandhabt in "nur-gut"- oder "nur-böse"-Objektbeziehungen und Externalisierungen. So fallen dann ökonomische Interessen und territoriale Kontrolle mit psychodynamischen Implikationen in eins. Hegemonialkämpfe und territorialer Streit führt zu einer spezifischen gemeinsamen "Figuration" (Elias) der Beteiligten. Dies wird von JÜNGST ausführlich und überzeugend
regional und historisch differenziert.
Es lassen sich derzeit folgende Typen territorial erscheinender Konfliktsituationen erkennen: Krieg der Konzerne, national-ethnische Konflikte, großräumliche Dichotomien entlang der arabisch-islamischen und westlichen Differenzen, Staatszerfall in rohstoffreichen Entwicklungsländern. "Krieg" wird dabei nicht nur klassisch als Gräuelszenerie und reale Vernichtung verstanden, sondern auch als psychisches und soziales Phänomen und Dynamik.
Die "Schlachten" auf den globalen Märkten und außerhalb des Durchgriffs der Politik müssen als neuartiger Schrecken unausgesprochen bleiben; die Begriffe "Gier", "Bankpiraten", "organisierte Kriminalität" etc. verletzen insofern noch weithin ein Tabu (HELMUT SCHMIDT hatte immerhin den Begriff "Raubtierkapitalismus" gewagt); die psychoanalytische Betrachtung der treibenden paranoid-schizoiden Prozessdynamik mag manchem noch immer als "realitätsfremd" oder als "links" erscheinen (z.B. in Gestalt der Globalisierungskritiker von Attac etc.)
National-ethnische Konflikte lassen sich neben den ökonomischen und kultur-antagonistischen Aspekten vor allem als Selbstwertproblematik, historisches Trauma und projektive Entlastung verstehen. "Jugoslawien" und "Tschetschenien" z.B. lassen sich anders gar nicht verstehen. Die unfassbaren Gräueltaten können als Reinszenierung frühkindlicher traumatisierender Gewalterfahrung verstanden werden, die als heroische Lebensauffassung im Kampf, der Vernichtung von Feinden und der Selbstopferung ihren ruhmhaften Sinn findet.
Gleiches gilt für die Aggressivität und Selbstwertproblematik in islamisch-arabischen Gesellschaften, endogen im Weiterwirken autoritär-patriarchaler Muster, exogen in der psychosozialen Destabilisierung durch einen aktiven Westen. Insbesondere die US-amerikanische Gesellschaft ist auch heute durch ein auf die Frontier-Phase zurückgehendes psychosoziales Apriori beeinflusst, in dem der "amerikanische Traum" in eins fällt mit der Ausrottung der "Anderen". Der Mangel an Empathie und Verständnis führt unmittelbar zur Bereitschaft des traditionell erfolgreichen Eroberns und Zerstörens von Hindernissen. Empathie oder gar Trauerarbeit gelten dabei psychoanalytisch als "depressive Position".
Die Analyse der Psychologie etwa islamistischer Terrororganisationen und der Provokation der Macht erscheint dabei erklärungsstärker und zielführender als die traditionelle flächendeckende militärische "Behandlung" von Regionen oder Staaten. Aber der "11. September" muss psychoanalytisch gesprochen als kollektive Traumatisierung und Verletzung von Gruppenidentität und -narzissmus der US-Gesellschaft verstanden werden, das unablässig zum Beweis der militärischen Überlegenheit zwingt, und der sich als "gewähltes Trauma" sich doch immer weiter zum posttraumatischen Belastungssyndrom entwickelt.
Die Kriegsökonomien in rohstoffreichen zerfallenden Entwicklungsländern erklären sich aus dem Zusammenwirken von ethnisch-kulturellen Verschiedenheiten, kolonialer Vergangenheit, dominierenden postkolonialen "Eliten", transnationalen Konzernen und Privatarmeen inkl. warlords und Kindersoldaten nun fast von selbst. Kriegsökonomie erzeugt einen sozialen Raum, in dem die Aneignung von Ressourcen gewaltgesteuert verläuft. Dies geschieht aber nicht auf "Inseln des Unrechts", sondern als Teil einer Weltwirtschaft, in der "Gier" und die paranoid-schizoide Dynamik des "Raubtierkapitalismus" unmittelbar zum Tragen kommen.
Insgesamt ist das Buch von JÜNGST eine angeleitete Aufforderung nicht nur zum Verstehen der "äußeren Realität" und dem was dahinter steckt, es will auch sozialisatorische Prozesse stärken, durch die sich Fähigkeiten zur Empathie und Gemeinschaftlichkeit entwickeln. Die Akteure werden aufgefordert, sich abzulösen von den zerstörerischen Prägungen und Projektionen und durch größeres Wissen um das konflikthafte Selbst zur Wahrnehmung der "Anderen" zu finden und Gegensätze und Konflikte dialogisch-dialektisch zu überwinden.
Und so ist das Buch ein exzellenter Beitrag zu einer dringend notwendigen engagierten Geographie, mit dem für Geographen noch ungewohnten Instrumentenkasten der Psychoanalyse, die in einer "Neuen Kulturgeographie" eine entscheidende Leerstelle im Erklären von "Handlung" und "Geographiemachen" schließen hilft.
Autor: Tilmann Rhode-Jüchtern

Quelle: Erdkunde, 59. Jahrgang, 2005, Heft 2, S. 165-168