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Kategorie: Rezensionen

Thomas Rottland: Von Stämmen und Ländern und der Macht der Karte. Eine Dekonstruktion der ethnographischen Kartierung Deutsch-Ostafrikas. Berlin 2002 (Zentrum Moderner Orient, Arbeitshefte 21). 118 S.

Das Arbeitsheft möchte einen Beitrag zur, nach Ansicht des Autors, noch wenig entwickelten wissenschaftlichen Diskussion über koloniale Kartographie leisten. Dabei sollen die "Spezifika von geographischer Raumproduktion" (S. 8) besonders behandelt werden und über Karteninterpretation "Beziehungsstrukturen zwischen Kartierung, Raumstruktur, Territorialität und Ethnizität" (S. 7) mit einem Betrachtungsschwerpunkt auf der deutschen Kolonialphase um 1900 dekonstruktiv aufgezeigt werden. Zur Illustrierung der Ausführungen werden 14 Kartenbeispiele bzw. Kartenausschnitte auf CD-ROM bereitgestellt, die zwischen 1851 und 1922 als Teil von Kartenserien, als Atlaskarten oder als Supplemente von Monographien entstanden.
Einleitend setzt sich die Studie theoretisch mit geographischen Konzepten von Raum kurz auseinander und stellt verschiedene Interpretationsrichtungen vor. Mit dem selbst gestellten Anspruch, inhaltliche Klarheit an Begriffe wie "Stamm", "Ethnie" oder "Ethnische Gruppe" heranzutragen, scheitert das Werk allerdings. Dies scheint vor allem in der Nichtverarbeitung wichtiger neuerer Primärliteratur aus dem Bereich Ethnologie und Ethnosoziologie begründet zu liegen. Hinsichtlich der historischen Verwendung bestimmter Termini werden Fakten aufgelistet, die seit längerem bekannt und hinreichend diskutiert sind. Bezüglich modernerer Auseinandersetzungen mit dem Begriff "Stamm" lässt sich der Autor z.B. zu der ebenso gewagten wie inhaltlich falschen Feststellung hinreißen, dass dieser Terminus auch heute "ethnologisch nur im historischen Sinne zu verwenden" sei. In den folgenden Abschnitten wird behauptet, die "Erfindung von Stämmen" sei in erster Linie ein europäisches Konstrukt. Neuere Quellen, die sich kritisch mit älteren Interpretationsrichtungen auseinandersetzen, werden nicht genannt.
Dass neuere Literatur zur - vor allem in Völkerkunde und Ethnlogie - geführten Diskussion um die Verwendung der Begriffe "Ethnie" und "Ethnizität" im vorliegenden Heft nicht in ihrer aktuellen Breite wahrgenommen werden, wäre bei der Bewertung einer Studie, die primär in Geographie bzw. Kartographie angesiedelt zu sein scheint, noch verzeihlich, nicht aber, dass auch kartographische Standardliteratur zum Thema entweder nicht genannt oder aber - was schwerer wiegt - pauschalisierend abqualifiziert wird. So greift ROTTLAND bereits in seiner Einleitung explizit andere Autoren an, die sich mit Themen der Bedeutung von Kartographie im kolonialzeitlichen Kontext beschäftigt haben und verleiht dem von ihm vermeintlich erkanntem Forschungsdesiderat dadurch besonderes Gewicht. Pauschal werden z.B. BRUNNER (1990) und KRETSCHMER (1990), vor allem aber DEMHARDT (2000a) kritisiert. Letzterem unterstellt ROTTLAND, vorwiegend deskriptiv gewesen zu sein. Angesichts dieser Deutlichkeit kann es nur verwundern, dass ROTTLAND selbst nur wenige Werke der von ihm kritisierten Autoren überhaupt anführt. So sind z.B. neben der "Entschleierung Afrikas" von DEMHARDT (2000a) die anderen Publikationen des gleichen Autors im Literaturverzeichnis nicht genannt. Möglicherweise sind sie ROTTLAND nicht bekannt, sonst hätte das Richtung weisende Werk von DEMHARDT (1997) über "Deutsche Kolonialgrenzen in Afrika" (Rezension in ERDKUNDE 1999 (1), S. 85) nicht unerwähnt bleiben dürfen, da es gerade eine besondere Betonung auf den Aspekt der kolonialen Grenzziehung im ehemaligen Deutsch-Ostafrika legt, der ja für ROTTLANDs Studie so wichtig zu sein scheint. Vergleichbares gilt für andere wichtige Literatur und themenverwandte Quellen (DEMHARDT 1997, 2000b sowie FINSTERWALDER und HUEBER 1943). Allgemein genügt es sicher nicht wissenschaftlichem Standard, die Arbeiten anderer, auch wenn sie ggf. abweichende Interpretationen liefern, einfach zu ignorieren.
Auch wenn das anzuzeigende Heft die Bereiche der Kartographie und die der kolonialpolitischen Interpretation verlässt, werden deutliche Lücken der allgemeinen Literaturperzeption offenbar. Klar veranschaulicht dies vor allem die Nichtbehandlung der umfangreichen Diskussion um das Problemfeld der Kartierung von Lebensbereichen ethno-linguistischer Gruppen, wie sie im von BAUMANN bereits 1975/75 herausgegebenen, zweibändigen Standartwerk über "Die Völker Afrikas und ihre traditionellen Kulturen" behandelt wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das anzuzeigende Produkt hinsichtlich der historischen Tiefe einiges zu wünschen übrig lässt, wichtige Standartliteratur nicht beachtet und zum Thema der Kollaboration zwischen Wissenschaften und kolonialer Durchdringung nur wenig Neues oder gar Dekonstruktivistisches bringt.
BAUMANN, H. (Hg.) (1975/79): Die Völker Afrikas und ihre traditionellen Kulturen. 2 Bde. Wiesbaden.
BRUNNER, K. (1990): Karten Ostafrikas um die Jahrhundertwende: Ein Beitrag zur Kolonialkartographie. Interdisziplinäre Beiträge zur Kartographiegeschichte. München, 47-53.
DEMHARDT, I. J. (1997): Deutsche Kolonialgrenzen in Afrika: historisch-geographische Untersuchungen ausgewählter Grenzräume von Deutsch Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika. Historische Texte und Studien 16. Hildesheim.
-    (2000a): Die Entschleierung Afrikas. Deutsche Kartenbeiträge von August Petermann bis zum Kolonialkartographischen Institut. Gotha.
-    (2000b): Developing Cartography from Namaqua- and Damaraland to Namibia: Milestones of Southwest African Surveying and Mapping. In: Die Erde 131, 285-309.
FINSTERWALDER, R. u. HUEBER, E. (1943): Vermessungswesen und Kartographie in Afrika. Berlin.
KRETSCHMER, I. (1990): Österreichische kartographische Leistungen in Ostafrika. In: SCHARFE, W; MUSALL, H. u. NEUMANN, J. (Hg.): Vorträge und Berichte. 4. Kartographiehistorisches Colloquium, Karlsruhe 1988. Berlin, 11-20.
Autor: Andreas Dittmann

Quelle: Erdkunde, 59. Jahrgang, 2005, Heft 2, S. 172-173