Hartmut Häußermann, Walter Siebel: Stadtsoziologie. Eine Einführung. Frankfurt a. M., New York 2004. 264 S.

In einschlägigen deutschsprachigen Lehrbüchern zur Stadtgeographie wird die Stadtsoziologie immer als eine der anderen Wissenschaftsdisziplinen bezeichnet, die sich auch mit Fragen der Stadtforschung beschäftigt. Eine manchmal etwas stiefmütterliche Einschätzung, insbesondere wenn man feststellt, dass in stadtsoziologischen Lehrbüchern zentrale Fragen der Stadtforschung wie Segregation oder urbane Lebenswelten theoretisch fundierter behandelt und empirisch-methodisch besser belegt werden als in vergleichbaren geographischen Lehrbüchern.

Diese Einschätzung ist vom Leser leicht nachzuvollziehen, wenn er die im Jahr 2004 erschienene Stadtsoziologie von Hartmut Häußermann und Walter Siebel zur Hand nimmt. Auf etwas mehr als 200 Textseiten liefern die beiden Autoren eine gute Einführung in die Stadtsoziologie, die auch jedem Einsteiger in das Thema Stadtgeographie empfohlen werden kann. Gleichwohl bleiben auf Grund des einführenden Charakters des Buches einige Aspekte "auf der Strecke", die gerade für einen Geographen besonders interessant wären (z. B. die Diskussion um den Stellenwert des Raumes in der Stadtsoziologie oder das Thema Suburbanisierung). Die Verfasser haben sich vorgenommen, "eine gleichermaßen real- wie theoriegeschichtlich angeleitete Stadtsoziologie vorzulegen" (S. 14).
Das Buch besteht aus fünf Hauptteilen mit insgesamt 15 Kapiteln. Jedes einzelne Kapitel schließt mit drei bis fünf Kontrollfragen. Diese Fragen ermöglichen es dem Leser zum einen, sein bei der Lektüre erworbenes Wissen strukturiert zu überprüfen. Andererseits werden auf diese Weise die wichtigsten Begriffe und zentralen Inhalte des Kapitels noch einmal pointiert zusammengestellt. Innerhalb der Kapitel werden die textlichen Ausführungen durch Tabellen, Abbildungen und Fotos gut ergänzt. Wichtige Sachverhalte, Begriffsklärungen und besonders erwähnenswerte Aspekte werden in grau unterlegten Textpassagen hervorgehoben. Das gesamte Buch wie auch die einzelnen Kapitel sind dadurch in sich gut strukturiert und somit gut lesbar.
Die mit der Überschrift "Was ist Stadtsoziologie?" versehene Einleitung erfüllt die damit geweckten Hoffnungen allerdings nur zum Teil. Der Gegenstand der Stadtsoziologie, die Stadt, wird nicht explizit definiert, sondern die stadtsoziologischen Fragestellungen aus einer disziplingeschichtlichen Perspektive entwickelt. In ihren einleitenden Bemerkungen machen die Autoren deutlich, dass Segregation aus ihrer Sicht das stadtsoziologische Hauptthema ist.
Im ersten Hauptteil (gleichzeitig Kapitel 1) werden der gesellschaftliche Strukturwandel und die damit in Zusammenhang stehenden Prozesse der Urbanisierung und Verstädterung eingehend dargestellt. Diese Ausführungen bilden einen guten Einstieg in die quantitativen und qualitativen Stadtentstehungs- und Stadtentwicklungsprozesse in Deutschland. Gleichzeitig werden auch die im Zuge des rasanten Städtewachstums aufkommenden großstadtkritischen Ideologien systematisch und verständlich zusammengestellt.
Der zweite Teil des Buches "Städtische Lebensweise und urbane Kultur" gliedert sich in 6 Kapitel. Dieser Teil befasst sich im Kern sehr umfassend mit der Frage, was Urbanität oder urbane Lebensweisen kennzeichnet - oder besser gesagt - gekennzeichnet hat. Die beiden Autoren gehen damit einem alten Thema der Stadtsoziologie auf den Grund: dem Unterschied zwischen dem sozialen Leben auf dem Land und der "urbanen Lebensweise". Häußermann und Siebel unterscheiden vier zentrale Aspekte von Urbanität und urbaner Lebensweise, die vorwiegend disziplingeschichtlich aufgearbeitet werden:
Zuerst (Kapitel 2) geht es um den spezifischen Sozialcharakter des Großstädters. Theoretisch-historischer Ausgangpunkt ist der stadtsoziologische Entwurf von Georg Simmel. Thematisiert werden insbesondere die Funktionalisierung des städtischen Soziallebens, stadttypische Mentalitäten und Verhaltensweisen sowie der Zusammenhang von Urbanität und Arbeitsteilung.
Im anschließenden Kapitel 3 wird auf der theoretischen Grundlage sozialökologischer Forschungsansätze und Untersuchungen die Genese sowie das Neben- und Gegeneinander der sozialen, ethnischen oder kulturellen Lebenswelten und Bevölkerungsgruppen in der Stadt zu klären versucht. Ausgiebig wird dazu das Forschungsprogramm der Chicagoer Schule erörtert.
Eine weitere Besonderheit des städtischen Soziallebens ist nach Auffassung der Verfasser die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit. Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt von Kapitel 4. Zurückgehend auf Bahrdt und Habermas wird gezeigt, wie die Polarisierung von Öffentlichkeit und Privatheit in der bürgerlichen Gesellschaft
über einen langen Zeitraum Urbanität konstruiert hat, dann aber als konstituierendes Element von Urbanität zunehmend verloren gingen.
Der im folgenden Kapitel 5 behandelte vierte Aspekt von Urbanität betrifft das Eingebundensein der städtischen Haushalte in gesellschaftlich organisierte Versorgungssysteme. Bei städtischen Haushalten wird grundsätzlich von einem vergleichsweise geringen Grad der Selbstversorgung ausgegangen. Auch diese Unterscheidung zwischen Stadt und Land, so führen die beiden Verfasser aus, lässt sich vorwiegend auf Versorgungssysteme zu Zeiten der Agrargesellschaften anwenden. Damit ist auch dieser Aspekt nur eingeschränkt geeignet, einen Unterschied zwischen ländlicher und städtischer Lebensweise zu markieren.
Das Verschwinden des Gegensatzes von Stadt und Land ist auch Thema von Kapitel 6 "Suburbanismus". Rahmenbedingungen, Kennzeichen und Auswirkungen der Suburbanisierung werden relativ knapp dargestellt. Zentral ist allerdings die Botschaft: "Nicht mehr die Stadtentwicklung prägt die Lebensweisen, sondern die Lebensweisen prägen die Stadtentwicklung." (S. 76). Die Verfasser konstatieren somit zum Abschluss dieses Hauptteils eine Urbanisierung der gesamten Gesellschaft. Damit steht natürlich eine der zentralen Fragen der Stadtsoziologie im Raum: Wenn alles urbanisiert ist, was ist dann Gegenstand der Stadtsoziologie? (vgl. Bommes u.a., 1991, S. 80 ff.) Allenthalben wird vom Stadt-Land-Kontinuum gesprochen: Worauf lässt sich Stadt, Städtisches, städtische Lebensweise oder Urbanität dann noch im Kern zurückführen? Es wäre für den Leser zweifellos Erkenntnis erweiternd, wenn diese prominente Problematik der Gegenstandsbestimmung der Stadtsoziologie - die natürlich auch eine Frage nach dem Stellenwert und der Abgrenzung von (städtischem) Raum ist - in dieser Einführung in die Stadtsoziologie explizit und ausgiebig behandelt werden würde. Hinweise auf die Schwierigkeiten der Abgrenzung von Themenfeldern der Stadtsoziologie oder auf den Stellenwert eines konstruktiven Raumbegriffs als mögliches Konstitutionselement von Stadt sollten hier nicht fehlen. Zumal die Frage nach dem Stellenwert des Raumes in der Soziologie (insbesondere der Stadtsoziologie) durchaus geführt wird (vgl. z. B. Krämer-Badoni, Kuhm, 2003).
Auch im Kapitel 7 stellt sich dieses Grundproblem erneut, wenn es um Aspekte der Gemeindesoziologie und Gemeindestudien geht. Prinzipiell müsste zunächst die Kategorie Gemeinde von Stadt abgegrenzt werden. Die Ausführungen zeigen, dass dies allenfalls disziplingeschichtlich möglich ist. Theoretisch-konzeptionell war und ist es jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, weshalb sich eine Gemeindesoziologie nur temporär etablieren konnte.
Der dritte Hauptteil des Buches trägt die Überschrift "Stadt als empirischer und theoretischer Gegenstand". Er besteht aus drei Kapiteln, in denen das Phänomen Stadt, seine vernetzen bzw. vernetzenden Strukturen sowie theoretische Ansätze zur Erklärung von Stadt und Stadtstrukturen erörtert werden.
Zu Beginn werden im Kapitel 8 unterschiedliche Stadtkonzepte und Stadtdefinitionen behandelt. Es wird herausgestellt, auf welche Weise Marx, Engels und Weber die Stadt als ein bedeutsames, bedrohendes oder auch kapitalistisches Subjekt des gesellschaftlichen Wandels auffassen und konzeptualisieren. Daneben werden weitere Versuche und Ansätze dargestellt, die Stadt als Subjekt von der Gesellschaft abzugrenzen: zum einen auf der Basis von L. Wirth mit den Merkmalen Größe, Dichte und Heterogenität, und zum anderen aus der Sicht der New Urban Sociology, die Stadt als Einheit der Konsumtion und Reproduktion versteht. In ihrer Zusammenfassung stellen die beiden Verfasser aber klar heraus, dass Stadt "nicht mehr Subjekt, sondern Objekt der Entwicklung geworden ist" (S. 100). Im Kapitel 9 gehen die Autoren auf die Entwicklung, den Stellenwert und den Bedeutungswandel von Gemeinschaften, Nachbarschaften und Netzwerken in Städten und städtischen Quartieren ein. Sie kommen bei ihren Ausführungen unter anderem zu dem Schluss, dass aus stadtsoziologischer Sicht durch städtebauliche Maßnahmen ein funktionierendes, nachbarschaftliches Sozialleben kaum initiiert werden kann.
Im Kapitel 10 diskutieren die Verfasser vier Theorien zur Erklärung von Stadtentwicklung und Stadtstruktur: die Sozialökologie, die New Urban Sociology, die ökonomische Stadttheorie und die politisch-planerische Theorie. Auf der Grundlage dieser Theorieansätze werden dann sowohl die für die städtische Entwicklung und Planung relevanten Akteure und Akteursgruppen identifiziert als auch die ihnen zur Verfügung stehenden Steuerungsinstrumente und Entscheidungsspielräume diskutiert.
Als ein vertiefender Einstieg in das Themenfeld Segregation ist der vierte Hauptteil des Buches "Stadt und Ungleichheit" zur Lektüre zu empfehlen. Auf fast 60 Seiten werden der Segregationsbegriff, soziale und ethnische Segregation theoretisch wie konzeptionell aspektreich erörtert.
Die Ausführungen in Kapitel 11 umfassen neben einer gut visualisierten Erklärung des Segregationsbegriffes darüber hinaus Anleitungen zur Berechnung und Interpretation von Segregations- und Dissimilaritätsindizes. Die Entwicklung von Segregation in beiden deutschen Staaten und dem wiedervereinigten Deutschland werden ebenfalls kurz thematisiert. Da sich soziale und ethnische Segregation im Hinblick auf ihre Ursachen und Wirkungen unterscheiden, werden sie von den Autoren in unterschiedlichen Kapiteln (12 und 13) behandelt.
Bei der Entstehung sozialer Segregation stehen Angebot und Nachfrage nach Wohnraum im Mittelpunkt. Diese Aspekte werden im Kapitel 12 entsprechend breit ausgeführt. Stigmatisierende und kumulative Effekte sozialer Segregation werden umfassend und kritisch beleuchtet. Gentrification, die auch als eine Sonderform sozialer Segregation aufgefasst werden könnte, wird nur en passant thematisiert.
Bezüglich ethnischer Segregation konzentrieren Häußermann und Siebel ihre Ausführungen zum einen auf die Vor- und Nachteile ethnischer Segregation (Kontakt- vs. Konflikthypothese) und zum anderen auf Möglichkeiten und Modelle zur Integration von Zuwanderern in den Städten. Durch eine pointierte Zusammenstellung von Pro- und Contra-Punkten werden die aktuellen gesellschafts- und kommunalpolitischen Konfliktfelder um ethnische Segregation und die Zuwanderung von Migranten transparent gemacht.
Das letzte Kapitel des Teiles "Stadt und Ungleichheit" widmen die Autoren der Feministischen Stadtkritik. In diesem Kapitel erhielten sie maßgebliche Unterstützung von der Ko-Autorin Susanne Frank. Diese verfasste den Entwurf für dieses Kapitel, der dann "gemeinsam mit den anderen Autoren diskutiert und in Folge leicht überarbeitet wurde." (S. 196, Fußnote). Es werden zunächst grundlegende empirische Ergebnisse der feministischen Stadtsoziologie referiert. Diese zeigen die Belastungen, Benachteiligungen und Behinderungen von Frauen innerhalb städtischer Strukturen auf (z. B. hinsichtlich der Mobilitätsstrukturen und der Verkehrspolitik, der Wohnraumversorgung oder der Aneignung und Nutzung öffentlicher Räume). Interessant ist, dass die nun von den Autoren bzw. der Autorin dargestellte feministische Perspektive auf die Stadt einige in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Konzepte und Theorieansätze in einem neuen Licht erscheinen lässt. So werden interessante neue Aspekte, aber auch bedeutsame Schwächen und Defizite des im Kapitel 5 vorgestellten Konzepts von Öffentlichkeit und Privatheit angesprochen, die dort nicht thematisiert worden sind (beispielsweise unterschiedlichen Konstruktionen von Öffentlichkeit und Privatheit bei Männern und Frauen).
Den Abschluss des Buches bildet ein als stadtsoziologisches Gespräch oder Interview konzipierter Ausblick. Hierzu wurden die beiden Autoren von Jens Wurtzbacher befragt. Dabei geht es noch einmal um Stadt als soziologischen Gegenstand, aktuelle Forschungsfragestellungen der Stadtsoziologie oder die Bedeutung von Migrantenströmen für die zukünftige Stadtentwicklung. Einzelne stadtsoziologische Aspekte und Problemstellungen (z.B. Migration und Stadt, Soziologie und Planung), die in unterschiedlichen Kapiteln des Buches behandelt wurden und eher nebeneinander standen, werden dadurch integriert.
Da sich diese stadtsoziologische Einführung in erster Linie an Einsteiger in das Thema richtet, ist es auch als Nachschlagewerk konzipiert. Davon zeugt zum Beispiel das sehr umfangreiche Personen- und Sachregister, welches das Wiederauffinden interessierender Textstellen erleichtert. Wichtige Vertreter der Stadtsoziologie, auf die sich die Autoren in ihrem Werk bezogen haben, werden kurz vorgestellt und charakterisiert. Ein Glossar mit Begriffen (und Konzepten) aus der Stadtsoziologie und der Stadtplanung liefern einen raschen Überblick und schnellen Informationszugang. Hervorzuheben ist schließlich die nach stadtsoziologischen Forschungsfeldern sortierte und kommentierte Liste mit weiterführender und vertiefender Literatur.
Hartmut Häussermann und Walter Siebel haben eine lesens- und empfehlenswerte Einführung in die Stadtsoziologie geschrieben. Sie erscheint insbesondere für Einsteiger in das Thema Stadtsoziologie sehr gut geeignet, auch als Nachschlagewerk. Sie bietet auf der Grundlage theoretischer Konzepte und disziplinhistorischer Entwicklungen einen umfangreichen Einblick in die wesentlichen Gegenstandsbereiche der Stadtsoziologie. Wer empirische Ergebnisse und Fallstudien aus der Stadtsoziologie erwartet, muss allerdings zu anderen Stadtsoziologien greifen (z. B. Friedrichs, 1999). Gleichwohl werden in dem vorliegenden Buch die Inhalte in der Regel an Hand von kurzen Beispielen und plausiblen Überlegungen deutlich gemacht. Für Geographen bietet diese Einführung eine Fülle von grundsätzlichen, theoretisch und disziplingeschichtlich fundierten Erkenntnissen aus der soziologischen Stadtforschung. Diese gehen deutlich über den oft deskriptiven Charakter geographischer Stadtforschung hinaus.
Literatur
Bommes, Michael, Carsten Klingemann, Gabi Köhler, Albert Scher 1991: Anwendungsorientierte soziologische Forschung. In: Harald Kerber, Arnold Schmiederer (Hg.): Soziologie. Arbeitsfelder, Theorien, Ausbildung. Reinbek. S. 62-104.
Friedrichs, Jürgen 1999: Stadtsoziologie. Opladen.
Krämer-Badoni, Thomas, Klaus Kuhm. (Hg.) 2003: Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie. Opladen. (rezensiert von Andreas Pott in geographische revue, 2/2004. S. 81-86)
Autor: Manfred Rolfes

Quelle: geographische revue, 7. Jahrgang, 2005, Heft 1/2, S. 110-114