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Kategorie: Rezensionen

Karl-Dieter Keim: Das Fenster zum Raum. Traktat über die Erforschung sozialräumlicher Transformation. Opladen 2003. 171 S.

"Planer sind ohnedies eher auf Inputs orientiert; sie wollen machen, nicht aus den erzielten Wirkungen lernen." (Keim 2003, S. 114) Zwar wird diese These nicht belegt, doch steht sie am Ende eines langen, interessanten Berufsweges und stammt vom ersten Direktor des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS). Karl-Dieter Keim entwickelt den zweiten Halbsatz des Zitats zu einer Raumwissenschaft "von hinten": Dabei geht es nicht um die Durchsetzung "fertiger" Planung, sondern um ihre Verhandlung mit Interessenträgern unter dem Stichwort "Governance" (Kap. 7, S. 88-115).

Diese Verhandlung berücksichtigt nicht nur Planungen der Raumplaner, sondern als Place-making Ortsbildungen und Kodierungen anderer Subjekte (Kap. 6, S. 75-88). Und dies wiederum fußt auf Spacing als Rückgriff auf die institutionellen Ressourcen der Regionalisierung (Kap. 5, S. 55-75). In gewisser Weise verschleiert die oft angelsächsische Terminologie des Buches den "place" zur Motivation zu diesem Ansatz. Die Anstöße dazu ergaben sich wohl aus Planungsmisserfolgen bei der Regulierung von Konflikten und Segregationsprozessen in westdeutschen Großstädten und aus dem großflächigen Scheitern der institutionalen Raumplanung bei der Schaffung "blühender Landschaften" im Osten Deutschlands. Doch das ist nicht das Hauptanliegen des Buches, denn kurz und knapp wird das Evaluierungsthema damit beendet, dass es eine "bittere" und eine "heitere" Version der Regionalentwicklung gäbe (S. 14).
Grundlegender ist der Wechsel der Autorenposition: Keim kann sich nicht mehr mit dem Planer identifizieren, aber auch nicht mit dem Soziologen oder Geographen. Er nimmt die Position des grand old man ein, der an ein Fenster herantritt, "durch welches wir Raumfragen in den Blick nehmen wollen." (S. 159) "Zentral scheint ... zu sein, danach zu fragen, wie Siedlungen, Städte, Landschaften, Regionen in ihrer territorialen Ausbreitung, in ihrer physischen Gestaltung, in ihren Nutzungsmöglichkeiten, in ihren sozialräumlichen Handlungs-, Konflikt- und Integrationspotenzialen beschaffen sind, wodurch diese Beschaffenheit bestimmt wird - hierzu gehört die Rolle der Planung - und wie sie schließlich im Sinne des "guten Lebens" weiter entwickelt werden können." (S. 23) Entsprechend dieser Vorgabe werden raumplanerische Ziele durch den "cultural turn" multidisziplinär aufgeweicht (S. 33) und der Einsatz informeller Planung und indirekter Steuerungsinstrumente gegenüber der institutionalisierten Planung favorisiert (S. 50).
Das anfangs dargelegte Programm wird in Triaden abgearbeitet. Spacing wird in Aneignungs-, Zugangs- und Netzbildungskonzepte gegliedert, Place-making in phänomenologisch-kulturanthropologische, sozialökonomisch-funktionale und politisch-symbolische Konzepte eingeteilt. Unter dem Label "Governance" werden diese Konzepte in Bezug auf raumbezogene Diskussion und Entscheidungsfindung untersucht. Unter Governance versteht Keim "ein Spektrum an Formen sozialer Handlungssteuerung unter Mitwirkung von Vertretern öffentlicher wie semi-öffentlicher oder privater Akteure zum Zwecke der Steuerung von regionalen und städtischen Entwicklungen." (S. 91). Die Handlungssteuerung soll in Form von Aktor-Netzwerk-Konstrukten aufgebaut werden. Sie bilden nicht nur die idealen Podien, auf denen das "gute Leben" durchgesetzt werden soll. Sie sind auch Stabilisatoren für informelle Arbeitsgruppen und eine Art Mädchen für alles - einschließlich der Problemlösung beim Quartiersmanagement in Großstädten. Jedes der drei Kapitel wird durch einen Abschnitt über "konzeptionelle Einwände" ergänzt.
In den folgenden vier Kapiteln geht es um regionale Entwicklungskonzepte (Kap. 8, S. 115-122), um das Scheitern der Länderehe Berlin-Brandenburg 1996 und seine Folgen (Kap. 9, S. 125-137), um eine veränderte Planungskultur (Kap. 10, S. 137-142) und noch einmal um die Aktor-Netzwerk-Theorie (Kap. 11, S. 144-149). Darin wird gesagt, dass bei den Netzwerken nicht zwischen Menschen und Gegenständen als Objekten zu differenzieren sei. Beispiele seien die Symbiosen von Mensch und Auto oder von Wissenschaftler und Computer. Eine Schlüsselrolle spielten in den Netzwerken die "Intermediäre", d.h. Texte, technische Artefakte, vermittelnde Personen, Geld "und andere beziehungsstiftende Elemente, die von den interagierenden Aktoren in Zirkulation gebracht werden." (S. 147) Wird mit einem solchen Konstrukt nicht die formale Organisation nachmodelliert? Keim beschwichtigt: "... Aktor-Netzwerke verstehen sich als Sozialexperiment, prozessorientiert und möglichst voraussetzungslos; was unverzichtbar ist, sind freilich einige Personen, die willens sind, etwas anzupacken." (S. 155). Unwillkürlich denkt man bei einer solchen Diktion an Unternehmer. In der Tat erscheinen Unternehmen dann als professionalisierte Aktor-Netzwerk-Strukturen, die durch Produktions-, Absatz- und Arbeitsverträge stabilisiert sind. Keim konzidiert: "Die korporierten Akteure haben dabei offensichtlich einen organisatorisch bedingten Startvorteil." (S. 140) Aber geben sie den freiwillig auf? Sie sind den informellen Netzwerken nicht nur durch ihre genaue Arbeitsteilung, ihre Dauerhaftigkeit und ihre ökonomische Macht voraus. Sie können es sich leisten, die kunstvoll aufgebauten informellen Governance-Gremien mit Stellvertretern zu bestücken, die allein aufgrund ihrer mangelnden Autonomie sich immer wieder bei der Unternehmensführung rückversichern müssen. So können die schönsten kooperativen Initiativen auf der Zeitschiene versickern, denn die formale Organisation besteht mit Sicherheit länger als die informelle. Gerade die Situation im Osten Deutschlands ist dadurch gekennzeichnet, dass es relativ wenige selbstständige, selbsthandelnde Unternehmer gibt. Meist muss man sich als Planer mit Filialleitern oder ihren Stellvertretern herumschlagen. Informelle Planung bedeutet Machtverschiebung vom gewählten zum bestimmten Repräsentanten, wobei der Bestimmende im Hintergrund bleiben kann. Wir erfahren nichts über die Grenzen der neuen kooperativen Planungskultur (S. 139). "So werden sich demnach veränderte Planungskultur und dynamisierte Macht-Geometrie verschränken und zu Resultaten führen, die kaum prognostizierbar sind," meint Keim (S. 143). Mit dem ostdeutschen Erfahrungshintergrund könnte man prognostizieren, dass manchmal das Ergebnis Mafia ist. Risiken birgt auch die sogenannte "epistemische Kultur", die Keim heraufbeschwören möchte (S. 142). "Es könnte sein, dass die sich wissensbasiert ändernde Handlungslogik gleichzeitig mit Erweiterungen einhergeht, die für die Steuerung von Objekten von hoher Komplexität vorteilhaft sind." (S. 142) Eine Seite später erkennt er selbst: "Sie bedeutet für die herkömmliche Vorstellung von Planung einen Autoritätsabbau, eine Schwächung des Fachwissens als dirigierende Ressource, somit eine Freisetzung ungeplanter Vorhaben, zusätzlicher Optionen - und Fehlentwicklungen... Die transformierte Planungskultur zeichnet daher etwas Ungenaues, etwa Fragiles aus." (S. 143). Das soll wohl heißen: Wissen ist sehr wichtig, aber Planerwissen ist nicht ganz so wichtig. Nicht selten gibt es gerade in informellen Strukturen eine starken Trend, Wissensträger zu reduzieren oder auszuschließen. Und das macht Sinn, denn von Wissen geht manchmal eine disziplinierende Aktivitätenkontrolle aus - und die ist häufig nicht gewünscht.
Das Buch ist textlich sehr dicht geschrieben. Tabellen, Übersichten oder Abbildungen hätten helfen können, die komplizierte Materie zu veranschaulichen, zumal Studierende als Adressaten direkt angesprochen sind (S. 159). Zwar gibt es zwei Abbildungen auf den Seiten 130 und 131, die jedoch zum Verständnis des Buches eher überflüssig sind. Neben den genannten nicht ausdiskutierten Fragen enthält das Buch einige theoriebezogene Schwächen. Argumentation und Sekundärliteratur (A. Giddens) in den Kapiteln Spacing und Place-making erinnern in vieler Hinsicht an die handlungszentrierte Sozialgeographie Benno Werlens, der mit keinem Wort zitiert wird. Ein Bezug auf Werlen hätte sicher geholfen, einige flache Raumontologismen zu vermeiden, die die Raumkonstitution der Kapitel 2 bis 4 (S. 17-53) und andere Passagen (S. 55-56) durchziehen. Erst im kurzen, aber bemerkenswerten Schlusskapitel (S. 157-160) kommt Keim zu einer völlig anderen Raumerkenntnis: "Dieses Denken ... ist nicht auf eine Rematerialisierung reduzierbar, sondern an Raumzusammenhängen interessiert, die sich als etwas bezeichnen lassen, was es so gar nicht gibt: eine kontextuierende soziale Physik mit hoher Kontingenz. Die Nähe der Kommunikationen zum Raum führt dazu, dass - je nach Kontext - unterschiedliche Wege beschritten werden, um einen Ort, um räumliche Dynamiken zu erkennen und raumgebundene Probleme zu lösen." (S. 157) Damit nähert er sich der Begrifflichkeit der Raumabstraktion aus dem raum-kommunikativen Ansatz. Leider ist das Buch eine Seite später zu Ende, ohne die neue Linie weiterzuverfolgen. Stattdessen verlässt der Autor das Fenster zum Raum, geht zur Tür und empfiehlt einen Spaziergang, "... weil das eher beschauliche Sich-Bewegen eine Erweiterung des Einfalls-Fensters (BAIER) bewirkt, ... weil das konkrete Hinsehen uns immer aufs Neue überraschende Einblicke beschert, weil uns diese Art der Raumaneignung davor bewahrt, uns in rein abstrakten Weltbezügen zu bewegen ..." (S. 160).
Autor: Helmut Klüter

Quelle: geographische revue, 7. Jahrgang, 2005, Heft 1/2, S. 131-133