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Kategorie: Rezensionen

Judith Hin: Ethnic and Civic Identity: Incompatible Loyalties? The Case of Armenians in Post-Soviet Georgia. Amsterdam 2003 (Nederlandse Geografische Studies 315). 217 S.

Die Situation der ethnischen Minderheiten und die Frage ihrer Integration gehört zu den wichtigsten Problemen, die die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion belasten. Die hier vorgelegte Untersuchung analysiert ethnische und staatsbürgerliche Identität am Beispiel der armenischen Minderheit in Georgien.

Grundlage ist neben der Literaturauswertung die quantitative Erfassung auf der Basis einer Befragung. Damit sind zwar sicher Grenzen hinsichtlich der Reichweite der Aussage gezogen, doch erlaubt das Material einige Schlussfolgerungen. Ausgangspunkt sind eine Beschreibung des politisch-räumlichen Rahmens und die Begriffsklärung des mehrdimensionalen Identitätsbegriffs. Ein historischer Rückblick muss über die aktuelle Unabhängigkeit zurückschauen und die Situation der Armenier während der Entwicklung eines georgischen Nationalbewusstseins be-rücksichtigen. Die Befragung wird in zwei städtischen Räumen (Tbilisi und Batumi) sowie in drei ländlichen Kreisen (Signachi mit deutlichem georgischen Übergewicht; Achalciche und Dz?avacheti mit armenischer Bevölkerungsmehrheit) durchgeführt, um dem differenzierten Verteilungsmuster gerecht zu werden. Um zu abgesicherten Aussagen zu gelangen, werden Eigenidentifikation und Fremdidentifikation einander gegenübergestellt; Wahrnehmung der Gruppe und darauf beruhende Verhaltensweisen bilden die Zielrichtung der Untersuchung. Als Ergebnis lässt sich zunächst feststellen, dass das Nationalbewusstsein der Armenier im georgischen Staat relativ schwach ausgeprägt ist; daraus resultiert eine geringe staatsbürgerliche Identität. Da gleichzeitig die ethnische Identität das Übergewicht gegenüber der staatsbürgerlichen besitzt, tritt ethnozentriertes Verhalten insbesondere in den weitgehend armenisch besiedelten Landkreisen im südwestlichen Georgien hervor. Bei den in der Stadt lebenden Armeniern lassen sich der Verlust von sozialem Status und sozialer Position als wichtigstes Hindernis für die verstärkte Identitätsentwicklung herausfiltern. Ob das geringe staatliche Bewusstsein eine Folge der Sowjetzeit ist, in der demokratische Verhaltensweisen nur bedingt galten und in der der ethnische Bezug das Übergewicht gegenüber dem administrativ-territorialen besaß, kann nur vermutet werden. Insgesamt handelt es sich um eine interessante Detailunter-suchung, die dem Phänomen des Ethnischen sehr differenziert nachgeht. Problematisch erscheint allerdings die statis-tische Basis, die wohl kaum geeignet ist, um weit reichende Aussagen und Verallgemeinerungen zu rechtfertigen.
Autor: Jörg Stadelbauer

Quelle: Erdkunde, 60. Jahrgang, 2006, Heft 1, S. 73