Dirk Bronger und Johannes Wamser: Indien - China. Vergleich zweier Entwicklungswege. Münster 2005 (Asien - Wirtschaft und Entwicklung 2). 297 S.

Der rasante wirtschaftliche Aufstieg der beiden Bevölkerungsgiganten China und Indien verändert die Welt. Das spektakuläre Wirtschaftswachstum beider Länder und ihre neue Rolle in der Weltpolitik werden in jedem Fall als Herausforderung, von manchen auch als Bedrohung empfunden. Der aktuelle Worldwatch-Bericht warnt gar vor den Konsequenzen des Hyperwachstums für Weltwirtschaft und Umwelt. Gleichzeitig leben in beiden Ländern immer noch über 500 Millionen Menschen in absoluter Armut, in Indien allein etwa 350 Millionen, was ungefähr einem Drittel der Gesamtbevölkerung entspricht; ein Wert, der in Südasien nur noch von Bangladesh übertroffen wird.

Die Arbeit von DIRK BRONGER und JOHANNES WAMSER liefert nun erstmals eine empirisch fundierte und äußerst detailreiche vergleichende Betrachtung der ökonomischen Entwicklungswege und Entwicklungsunterschiede beider Länder seit ihrer Unabhängigkeit.
Dabei geht es auch um die Klärung der Frage, wie viele Menschen bisher tatsächlich vom wachsenden Wohlstand profitiert haben. Zudem werden an Beispielregionen innerstaatliche Disparitäten und Unterschiede herausgearbeitet. Das Buch gliedert sich in insgesamt sechs Hauptabschnitte, die den Fortgang der Analyse von der nationalen bis hin zur lokalen Handlungsebene wiedergeben. Zehn in den Textkörper integrierte so genannte "Kästen" liefern nützliche Zusatzinformationen, wie beispielsweise zur unterschiedlichen Perzeption beider Länder in der deutschen Presselandschaft, zur Problematik der Zuverlässigkeit "offizieller" Daten in Indien oder zur Frage, inwieweit die Skyline einer Stadt ein Indikator für Globalität darstellt. Dazu kommen noch über 140 (!) Abbildungen und Tabellen. Hier wäre weniger manchmal mehr gewesen.
Nach einer kurzen Einleitung, welche die Zielsetzung der Untersuchung darlegt, widmet sich der erste Hauptabschnitt zunächst der noch immer unterschiedlichen Wahrnehmung beider Staaten im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Im Anschluss daran wird beiden Ländern Gemeinsames und Trennendes vergleichend gegenübergestellt. Dabei wird auch auf die Datenproblematik eingegangen. Kapitel zwei analysiert dann die Bevölkerungsdynamik beider Länder als zukünftiges Kardinalproblem. In Indien und China leben schon heute 2,3 Mrd. Menschen, also fast 40 Prozent der Weltbevölkerung. Außerdem wird der Frage nachgegangen, wie beide Länder mit den unterschiedlichen demographischen Herausforderungen umgehen. Besondere Beachtung findet auch das Städtewachstum. Kapitel drei widmet sich den makroökonomischen Entwicklungen beider Länder in den vergangenen fünf Jahrzehnten. Untersucht werden die spezifischen politisch-ökonomischen Bedingungen und das daraus resultierende divergierende Wirtschaftswachstum, was einerseits auf die zeitlich versetzte marktwirtschaftliche Öffnung der Volkswirtschaften, andererseits auf das unterschiedliche Tempo der volkswirtschaftlichen Transformation zurückgeführt wird. Im Hauptkapitel vier werden mit Hilfe von neun Indikatoren das Ausmaß und die Dynamik der regionalen Entwicklungsunterschiede innerhalb beider Länder außerordentlich detailreich dargestellt. Hier erschweren die Vielzahl und Dichte an Abbildungen, Zahlenkolonnen und Variationskoeffizienten den Lesefluss doch ganz erheblich. Gleichzeitig wird aber auch eindrucksvoll herausgearbeitet, dass sich im vergangenen Jahrzehnt in beiden Ländern die regionalen Disparitäten wesentlich verschärft haben und bisher nur eine Minderheit der Provinzen/Bundesstaaten vom Wirtschaftsboom profitiert. Weder China noch Indien konnten den Konflikt zwischen Wachstum und Verteilungsgerechtigkeit auch nur annähernd überwinden. In Kapitel fünf stehen dann die intraregionalen Entwicklungsunterschiede im Vordergrund. Die Beispielregionen wurden geschickt ausgewählt. Sie repräsentieren sehr unterschiedliche Raumtypen: Maharashtra und Jiangsu stehen für den eher wohlhabenden metropolitan dominierten Raumtyp (mit Mumbai und Shanghai als Primatstädte), Uttar Pradesh und Sichuan für arme Binnenregionen, Kerala und Fujian für boomende Küstenregionen. Wieder wird deutlich, dass selbst in den boomenden Landesteilen nur eine Minderheit der Bevölkerung vom Wirtschaftsboom profitiert. Eine Ausnahme bildet allerdings das indische Kerala. Dort wird ein innovativer und zugleich erfolgreicher Weg beschritten: Partizipation, dezentrale Planung und der Nachhaltigkeitsgedanke verbinden sich mit wirtschaftlichem Wachstum, was nachhaltige Entwicklungsimpulse und den weiteren Abbau der ohnehin weniger ausgeprägten Disparitäten zur Folge hat. In Kerala weisen inzwischen alle Distrikte einen Entwicklungsstand auf, der deutlich über jenem Gesamtindiens liegt. Kapitel sechs fasst die Untersuchungsergebnisse ausführlich zusammen. Die Autoren betonen, dass der Wirtschaftsboom in beiden Ländern insgesamt noch keine breite Bevölkerungsschichten erfassende Entwicklung nach sich zieht, auch wenn sich das indische Wirtschaftswachstum bisher deutlich ausgeglichener gestaltet als jenes in China. Dazu kommen die ausgeprägte ökonomische Dominanz der großen Wirtschaftsmetropolen gegenüber fast allen übrigen Landesteilen sowie schwerwiegende intrametropolitane Entwicklungsunterschiede. Dies gilt für China und Indien gleichermaßen.
Insgesamt handelt es sich um eine sehr sorgfältig recherchierte Arbeit. Das besondere Verdienst der Autoren liegt darin begründet, dass sie den enthusiastischen Aussagen und Prognosen der Wirtschaftsnachrichten eine empirisch fundierte "Wirklichkeit" gegenüberstellen, die sich weit weniger rosig darstellt. Etwas zu kurz kommen allerdings die vergleichende Gegenüberstellung des politisch-ökonomischen Kontexts beider Länder sowie die Konsequenzen des Wirtschaftsbooms auf die Umwelt. Darüber hinaus macht die Arbeit auf den Rezensenten aufgrund der überaus großen Fülle an Daten und Zahlen einen etwas überladenen Eindruck. Dennoch handelt es sich zweifellos um ein Buch mit hohem Gebrauchswert, das für alle, die sich mit Indien und China beschäftigen, unbedingt zu empfehlen ist.
Autor: Christoph Dittrich

Quelle: Erdkunde, 60. Jahrgang, 2006, Heft 3, S. 301-302