Martin Klamt: Verortete Normen. Öffentliche Räume, Normen, Kontrolle und Verhalten. Wiesbaden 2007. 297 S.

Mit der ›Globalisierung‹ und dem marktschreierisch verkündeten ›Ende der Nationalstaaten‹ seit den 1990er Jahren ist ein Zurückdrängen demokratischer und sozialer Errungenschaften festzustellen. Damit wird zugleich die Frage nach dem Bestand des öffentlichen Raumes aufgeworfen, wie sie nicht zuletzt in den Kultur- und Sozialwissenschaften unter dem Modewort des ›Spatial turn‹ gestellt wurde. Was ist öffentlicher Raum aus der Sicht der Nutzer, wie hängen soziale Normen und Räume zusammen und wie wirken sich Normen auf die Wahrnehmung und das Verhalten der Raumnutzer aus?

Die von Verf. angenommene Interdependenz zwischen Räumen und Nutzern ist kein neues Thema in der Humangeographie. Innovativ ist jedoch die auf empirisches Material gestützte Analyse der subjektiven Wahrnehmung sozialer Normen in ihrem räumlichen Geltungsbereich und des entsprechenden Verhaltens der Raumnutzer. Verf. will so untersuchen, »was zwischen Mensch und Raum entstehen kann« (111). Dieses Zwischen nennt er »Atmosphäre«, worunter eine Art »Raumbild« (65) zu verstehen sei, welches die in den Raum Eintretenden in Hinblick auf das Potenzial des Raumes für die Entfaltung des individuellen Lebensstils wahrnehmen. Unter Aktivierung dieses Potenzials kommt es zur Inszenierung im öffentlichen Raum. Sie kann spezifische soziale Normen – abhängig von den Funktionen öffentlicher Räume (261) – reproduzieren oder brechen und damit ggf. neu konstituieren. Das aus dem Zusammenspiel von Wahrnehmung und Normen resultierende Verhalten wird unter Rückgriff auf die Umweltpsychologie erklärt: der Mensch sei weder bloß passiver Reizempfänger noch ein
psychologisch autonomes Wesen, sondern stehe in einem dialektischen Spannungsverhältnis zu seiner Umwelt (98ff) – und fällt damit trotzdem hinter die marxschen Feuerbachthesen zurück. In Auseinandersetzung mit der Setting-Theorie, die die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Raum entweder als ›Behavior Settings‹ (strukturalistisch) oder als ›Action
Settings‹ (handlungstheoretisch) zu erklären versucht, entwickelt Verf. einen eigenen Begriff: das ›Atmosphere Setting‹. Ziel ist, das Verhältnis nicht von dem einen oder anderen Faktor her determiniert zu betrachten, sondern das Wechselverhältnis zu fokussieren. Im Unterschied zur Umweltpsychologie steht jedoch die »vom Subjekt wahrgenommene Atmosphäre im Sinne eines Zwischen« (112) im Zentrum des Interesses.
Der eine öffentliche Raum, der nach politik-philosophischer Theorietradition auf die Ideale der Antike zurückzuführen ist und eine emanzipierte, politische Öffentlichkeit impliziert, ist nach Verf. nicht mehr existent. Auf der Basis der Individualisierungsthese von Beck wird ein Bedeutungszugewinn vieler verschiedener öffentlicher Räume postuliert.
Die individualisierten Gesellschaftsmitglieder seien auf der Suche nach einer neuen räumlichen Zugehörigkeit, um ihre subjektiv wahrgenommene Orientierungs- und Haltlosigkeit zu kompensieren. Zudem bedürften die zunehmend in die öffentlichen Räume strömenden »privaten Belange« einer »Bühne« (66). Anhand von drei Kriterien (quantitatives, diskursives und qualitatives Kriterium), die »wenigstens potenziell« erfüllt werden müssen, aber in keiner »strengen Hierarchie, sondern vielmehr in einer wechselseitigen Abhängigkeit« stehen, wird ein »Arbeitsbegriff« von öffentlichen Räumen entwickelt (71). In Hinblick auf das auf der Mikroebene verortete »diskursive Kriterium« wird öffentlicher Raum durch »Sozialität« und »Öffentlichkeit« (70) konstituiert. Mit dem Begriff des Diskurses bezieht sich der Autor auf Hannah Arendt mit dem Ziel, »einen erweiterten Raumbegriff« (47) zu entwickeln. Gleichwohl relativiert er ihre Kritik an modernen Gesellschaften, die sich gegen ein homogenes »sich-Verhalten« richtet, indem er sie mit der Individualisierungstheorie Becks amalgamiert. Denn Becks These unterstellt ja gerade eine Heterogenisierung der Lebensstile, wenngleich öffentliche Räume u.U. mit dem Zweck, normkonformes Verhalten funktional herzustellen, geplant werden(47f). Verf. bietet hier gewissermaßen eine Light-Version von Arendt, um sein diskursives Kriterium theoretisch zu fundieren, denn Arendts Verständnis von öffentlichem Raum kann nicht unter Ausschluss ihres emanzipativen Handlungsbegriffs in ein Untersuchungsdesign gestellt werden.
Auf dieser theoretischen Grundlage wird anhand Münchens die Frage nach dem empirischen Zusammenhang zwischen öffentlichen Räumen, Normen, Kontrolle und Verhalten der Raumnutzer untersucht. Fünf öffentliche »Teilräume« (24) in zentraler Innenstadtlage (»Hauptbahnhof«, »Karlsplatz«, »Fußgängerzone«, »Fünf Höfe« und »Hofgarten«)(170-254)
werden unter Anwendung verschiedener Verfahren der qualitativen Sozialforschung (Experteninterviews, Beobachtung und Experiment) ausgeleuchtet (134-46). Die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials zeigt, dass soziale Normen, die von den Raumnutzern subtil durch ihre individuelle sozialisationsgeprägte Wahrnehmungs- und Denkleistung wahrgenommen werden, in vielen Fällen nicht nur abhängig sind von der Funktion des jeweiligen Raumes, sondern insbesondere auch von der subjektiven Wahrnehmung durch den Nutzer. Dabei wirkt angesichts der Beobachtersituation in öffentlichen Räumen »gerade die Anwesenheit Anderer [...] gewissermaßen normierend« (262). Kein Zweifel, Verf. konnte mit seinem funktionalistischen Blick auf die Raumkategorie die Thesen des raumspezifischen Verhaltens und der Verortung von Normen empirisch nachweisen. Allerdings vernachlässigt die Analyse des »Raumbildes« die politisch handelnde Öffentlichkeit, die von dem Terminus des öffentlichen Raumes nicht zu trennen ist. Gerade in Zeiten der globalen Krisen sollte der analytische Blick für das raumkonstituierende Zwischen, wie es Hannah Arendt in ihrer »Vita activa« (1972) konstatiert, geschärft werden. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für Demokratie und Emanzipation ist auch im Kontext der Stadt- und Raumsoziologie zu stellen. Dass diese Frage von Verf. gänzlich unberücksichtigt bleibt, ist wohl die große Schwäche des Ansatzes.
Autorin: Semra Dogan

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, S. 521-523