David Blackbourne: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007. 592 S.

„Dies ist ein Buch über Umgestaltung in einem heroischen Maßstab. Im 18. Jahrhundert sah das deutschsprachige Europa so ganz anders aus als heute, dass viele seiner Regionen uns fremd vorkämen, wenn wir uns in die damalige Zeit zurückversetzen könnten. ... Die Eroberung der Natur schildert eine Reihe tiefgreifender Veränderungen in der natürlichen Umwelt während der letzten 250 Jahre.“ Und der Verfasser fährt auf der gleichen Seite 31 fort: „Und ich möchte zu guter Letzt behaupten, dass die Einstellungen zur Natur während dieser 250 Jahre ebenso viele Änderungen durchlaufen haben wie die natürliche Welt. Dies ist ein Buch über die Umgestaltung der deutschen Landschaft, das gleichzeitig zu zeigen versucht, wie das moderne Deutschland sich während dieses Prozesses herausgebildet hat.“

Diese Worte aus der Einleitung des Bandes kann man als knappe Inhaltsskizze interpretieren. Wer sich vor der Lektüre des gesamten Bandes einen Eindruck vom Ansatz und Denken des Verfassers machen möchte, lese zunächst das „Nachwort: Wo alles anfing“ (S. 419-440), in welchem die Problematik des Naturlandschaftswandels, der eigentlich ein Kulturlandschaftswandel ist, am Beispiel des Oderbruchs sachlich klar, faktenreich und vor allem spannend zu lesen dargestellt ist. Dem Verfasser geht es um zwei Sichtweisen: die der Geschichte und die der Geographie, dabei den englischen Schriftsteller Peter Heylyn zitierend (S. 27), der 1652 (!) formulierte: „Geschichte ohne Geographie hat ebenso wie ein Leichnam weder Leben noch Bewegung“. Um ein Fazit vorwegzunehmen: Dem in den Marschlandschaften von Lincolnshire (GB) 1949 geborenen, in Lexington (Mass.) lebenden und in Harvard lehrenden Historiker ist ein tiefschürfendes und zugleich – noch einmal: – spannend zu lesendes Sachbuch gelungen. Es „erzählt“, sachlich und fachlich hervorragend begründet (man könnte sich auf den Seiten 449 bis 539 in einem umfangreichen Anmerkungsteil verlieren), von der Entwicklung ausgewählter deutscher Fluss-, Feucht-, Moor- und Küstenlandschaften. Es sieht Beziehungen zwischen der naturräumlichen Herausforderung und dem Menschen, der mit Maß und Unmaß, meist politisch und/oder militärisch motiviert, die „Natur“ bewältigte und überwältigte. Dieser Ansatz eröffnet sowohl dem Historiker als auch dem Geographen neue Perspektiven. Vor allem die naturwissenschaftliche Richtung der Geographie bis hin zu diversen Naturschutzbewegungen und „Renaturierern“ werden sich nach der Lektüre dieses Buches fragen müssen: Was ist denn eigentlich „Natur“? Was ist „Ursprüngliches“?

Der Verfasser stellt den Wandel der Landschaft in den Mittelpunkt seiner Argumentation, und es wird deutlich, dass die „ursprüngliche Naturlandschaft“, von der wir heute reden, allenfalls bis vor ca. 250 Jahren bestand und dann die Eingriffe des Menschen folgten (dabei wird davon abgesehen, dass der Landschaftswandel, das Klima zudem ausgeschlossen, schon in den frühmittelalterlichen Rodungsphasen einsetzte). Wenn heute im Natur- und Umweltschutz so eine Art „Zurück zur Natur“ gefordert wird, z.B. bei sogenannten Renaturierungen, dann geben dafür allenfalls Teile eines früheren Kulturlandschaftsbildes Leitidee und Leitbild ab.

Seine Ideen legt der Verfasser in sechs Kapiteln dar: 1. Die Eroberung der Wildnis (S. 33ff.; vor allem den historischen Ausgangspunkt und die sozioökonomische Dynamik etwa ab dem Großen Kurfürsten umschreibend); 2. Die Bändiger des wilden Rheins (S. 97ff.; wo es aber nicht nur um Tulla geht); 3. Goldenes Zeitalter (S. 147ff.; Jadebusen und seine naturbedingte Dynamik und die Veränderung der Küstenlinie durch den Menschen sowie Moorkolonisation); 4. Dämme bauen (S. 229ff.; Talsperrenbau in den Mittelgebirgen und damit verbundene ökonomische und soziale Probleme, aber auch die von den Talsperren ausgehenden Gefahren durch Dammbrüche); 5. Rasse und Bodengewinnung (S. 307ff.; Entwicklungen im 20. Jh. an der Grenze und jenseits der Grenze des „deutschen Ostens“, eines im wahrsten Wortsinne „fließenden“ Gebildes); 6. Landschaft und Umwelt in beiden Teilen Deutschlands nach dem Krieg (S. 377ff.; von den „verlorenen“ „deutschen Ostgebieten“ bis zum Natur- und Umweltschutz in der BRD und in der DDR). – Mit diesen kurzen Kommentaren zu den Kapitelüberschriften lässt sich nur dürftig der reichhaltige, hochinteressante Inhalt skizzieren, den der Verfasser aus einer immensen Belesenheit heraus, und ausgestattet mit einer bewundernswerten Kombinationsgabe für landschaftsgeographische, soziale, politische und historische Fakten, im besten Sinne des Wortes „ausbreitet“.

Der Rezensent wiederholt sich: Das Buch ist höchst spannend zu lesen. Der oben verwandte Begriff „Sachbuch“ trifft nicht annähernd den essayistischen Charakter, dem alles Feuilletonhafte – und erst recht alles Lehrbuchhafte – abgeht. Um die Spannweite der Quellen für dieses gedankenreiche und bemerkenswerte Buch anzudeuten, soll hier auswahlsweise auf zitierte Geographen wie H. Berghaus, A. Buttimer, W. Christaller, E. Fels, H. Jäger, A. Krenzlin, K. Mannsfeld, H. Musall, E. Neef, H. Overbeck, W.H. Riehl, C. Ritter, O. Schlüter oder H.-D. Schultz bzw. auf das breite Spektrum an Schriftstellern, u.a. W. Benjamin, B. Brecht, A. Döblin, Th. Fontane, J.W. Goethe, G. Grass, Chr. Wolf oder C. Zuckmayer, verwiesen werden. So gesehen liefert das Buch „Bildung“ und es weitet den Horizont der Deutschen: Sie können – nein müssen – ihr Land, ihre Landschaften, aber vor allem auch ihre Geschichte anders, d.h. in einem andersartigen Kontext sehen. Als Deutscher wundert man sich natürlich über die große Vertrautheit des Verfassers mit der deutschen Kulturlandschaftsentwicklung, aber noch mehr darüber, weshalb weder deutsche Historiker noch deutsche Geographen das fertiggebracht haben, was uns ein Angloamerikaner als überaus beeindruckendes Werk vorlegt. Das Buch ist, wie schon gesagt, ein „Bildungsbuch“. Es gehört gerade deswegen nicht nur in Bibliotheken, sondern in die Hände eines ganz weiten Spektrums der Bevölkerung – von den „Grünen“ angefangen bis hin zu allen anderen politischen Gruppierungen, aber auch von Natur- und Umweltschützern und natürlich von Geographen und Historikern aller Couleur. Die Lektüre ist nicht nur bereichernd, sondern auch ein Genuss, wozu die fachlich und sprachlich hochstehende, geschmeidige Übersetzung aus dem Englischen ganz wesentlich beiträgt.

Autor: Hartmut Leser

Quelle: Die Erde, 139. Jahrgang, 2008, Heft 3, S. 272-273