Jürgen Hasse und Ilse Helbrecht (Hg.): Menschenbilder in der Humangeographie. Oldenburg 2003 (Wahrnehmungsgeographische Studien 21). 181 S.

Der vorliegende Band 21 der "Wahrnehmungsgeographischen Studien", herausgegeben von JÜRGEN HASSE und ILSE HELBRECHT, dokumentiert die Beiträge der Fachsitzung "Menschenbilder in Wissenschaftstheorie und Forschungspraxis" des 53. Geographentages 2001 in Leipzig. Zur thematischen Ergänzung wurden zusätzliche Aufsätze in den Band aufgenommen. Die Beiträge setzen sich mit der Rolle von Menschenbildern in der Geographie auseinander und diskutieren dabei die normativen Setzungen und vorgegebenen Ausgangspositionen des Faches.

JÜRGEN HASSE eröffnet die Aufsatzsammlung mit einer Reflexion über Die Frage nach den Menschenbildern - eine anthropologische Perspektive. Dabei macht der Verfasser deutlich, dass die Konstruktion des Menschenbildes erhebliche Auswirkungen auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kultur und Natur hat. Mit zunehmenden technischen Möglichkeiten und mit zunehmender Rekonstruktion und Konstruktion des Menschen selbst gewinnt die Art und Weise, wie sich der Mensch selbst sieht, an Bedeutung. HEIKE EGNER setzt sich mit dem Menschen in der Freizeitgesellschaft auseinander: Homo ludens oder homo carens? Über das Menschenbild in der Geographie der Freizeit und des Tourismus. Sie ersetzt das Bild des spielenden, kreativen und selbstbestimmten Menschen mit dem Menschenbild des homo carens, dem Menschen, der als Mangelwesen, insbesondere mit Mangel an Identität existiert. So wäre das Verhalten der Individuen in westlich-industriell geprägten Gesellschaften in ihrer Freizeit als Befriedigung eines existentiellen Bedürfnisses nach permanenter Sicherung der eigenen Existenz des Selbst zu interpretieren. Sollte das forschungsleitende Menschenbild des homo carens das Bild des implizit angenommenen homo oeconomicus ersetzen, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf Methodologie und Ergebnisse der Forschungen. Die Autorinnen CLAUDIA WUCHERPFENNIG, ANKE STRÜVER und SYBILLE BAURIEDL erforschen Wesens- und Wissenswelten. Sie nehmen den Leser und die Leserin mit auf Eine Exkursion in die Praxis der Repräsentation. Sie thematisieren die Herstellungsweisen von Menschenbildern; ihre Wirkungsmächtigkeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Kontexten sowie ihre Effekte auf Subjektivierungsprozesse. Am Beispiel dreier Forschungsfelder wird in groben Zügen die Bandbreite von Menschenbildern dargestellt und die Bedeutungen der Konstruktions- und Funktionsprinzipien aufgezeigt. Vor allem, so zeigen die Autorinnen, durch die Beachtung von Menschenbildern, die als Teil hinter einer
diskursiven Praxis stehen, ist ein Zugang zu gesellschaftskritischen Machtanalysen möglich. Eine etwas zynische Auseinandersetzung mit dem Menschenbild des homo oeconomicus bei WALTER CHRISTALLER liefert FRANK SCHRÖDER. Er analysiert Christaller und später - Menschenbilder in der geographischen Handelsforschung, wobei der Autor dem Altmeister eigenartigerweise Handelsforschung unterstellt. Der Artikel sucht nach dem Bild, das sich die deutsche Geographie vom Menschen als Konsumenten macht. Als Ergebnis der Studie fordert der Analyst neben dem rationalen Verhalten des Konsumenten, die hedonistische, spielerische und emotionale Dimension des Konsumenten in die Forschungsansätze zu
integrieren. Einen sehr interessanten Beitrag leistet HEIKE JÖNS, die mit dem Titel Von Menschen und Dingen: Konstruktiv-kritische Anmerkungen zum (a)symmetrischen Akteurskonzept der Akteursnetztheorie eine konstruktive Kritik der Akteursnetzwerktheorie liefert, welche die Vorstellung des selbstverantwortlich handelnden Menschen in Frage stellt, und von einer Symmetrie von Menschen und Dingen ausgeht. Am empirischen Beispiel der Transformation des ungarischen Bankwesens Ende des 20. Jahrhunderts moniert sie die fehlenden Gedanken, die Eindimensionalität von soziomaterieller Hybridität und potentieller Handlungsverantwortung sowie die Subsummierung von nichtmenschlichen dynamischen Hybriden und anderen nichtmenschlichen Entitäten. Dennoch bietet, so die Autorin, das Akteurskonzept der Akteursnetztheorie eine konstruktive Basis um Anthropozentrismus und Anthropomorphismus neu und weiter zu bearbeiten. Schließlich berichtet CLAUS C. WIEGANDT unter dem Titel Menschenbilder in Architektur und räumlicher Planung über die Diskussionen und Ergebnisse des Kongresses "Baukultur in Deutschland", der vom 3. bis 5. Dezember 2001 in Köln stattfand.
Am Ende des Bandes zieht ILSE HELBRECHT unter der Überschrift Humangeographie und die Humanities - Unterwegs zur Geographie des Menschen eine Bilanz des vorgelegten Unternehmens Menschenbilder. Sie fordert eine geisteswissenschaftliche Weitung der Humangeographie, die das "Eigene des Menschen" im Sinne von JACQUES DERRIDA sucht, bekräftigt, erneuert und hinterfragt sowie die Stellung des Menschen in der Welt thematisiert, denn nur dann kann, so I. HELBRECHT, die Humangeographie als "Geographie des Menschen" gelten.
Leider ist der intellektuell sehr anregende Band nur im flexiblen Kleinformat publiziert und mit technisch nicht optimalen schwarz-weißen Bildern ausgestattet. Die Bilder von Menschen des Frankfurter Fotografen Will Kauffmann ermöglichen allerdings zusätzliche visuelle und emotionale Perspektiven auf Menschen. Der Stellenwert der angegangenen Diskussion über Menschenbilder für die Weiterentwicklung der deutschen Geographie ist nicht hoch genug einzuschätzen. Herausgeber und Herausgeberin haben wahrlich mit der Publikation Menschenbilder in der Humangeographie ein Thema aufgegriffen, dass intensiv weiter bearbeiten werden sollte, da es das normative Fundament und die methodische Basis unserer Wissenschaft betrifft. Der Band ist unbedingt zur Lektüre in höchstem Maße zu empfehlen!
Autor: Anton Escher

Quelle: Erdkunde, 61. Jahrgang, 2007, Heft 2, S. 204-205