Frank Meyer: Die Städte der vier Kulturen. Eine Geogaphie der Zugehörigkeit und Ausgrenzung am Beispiel von Ceuta und Melilla (Spanien/Nordafrika). Stuttgart 2005 (Erdkundliches Wissen 139). 318 S.

Inzwischen ist die deutschsprachige Kulturgeographie dabei angekommen, Phänomene zwischen den Phänomenen zu thematisieren. Phänomene an der Grenze und an Grenzlinien sowie Fragen nach der Grenzziehung und die Auseinandersetzungen an Grenzen waren im geographischen Diskurs schon immer wichtig für die gegenseitige Abgrenzung von qualitativ differenten Räumen, aber selten wurde dezidiert die Auseinandersetzung und gegenseitige Ab- oder Ausgrenzung von Gemeinschaften in dem Maße thematisiert, wie in der von FRANK MEYER vorgelegten Untersuchung. FRANK MEYER setzt sich in seiner Habilitationsschrift über "Die Städte der vier Kulturen" mit einem Phänomen kolonialen Ursprungs auseinander und sticht dabei in ein politisches Wespennest. Die spanischen Städte Ceuta und Melilla liegen gewissermaßen auf der Grenze zwischen Europa und Afrika.

"Wer ist fremd an diesen Orten?" fragt der Autor. Dabei wird dem Leser bald klar, dass die Frage nur zur Hälfte gestellt ist: Wer ist wem fremd an diesen Orten? Sollte die Frage eigentlich lauten. Diese Frage betrifft den Konfliktpunkt zwischen Christen und Muslimen schlechthin. Der nationale und kulturelle Status von Ceuta und Melilla steht zur Diskussion. Die historisch-kulturelle Verwurzelung der Bevölkerung der beiden Städte spielt dabei eine tragende Rolle. Ceuta und Melilla sind seit dem 15. bzw. 16. Jahrhundert spanische von marokkanischem Territorium und vom Mittelmeer umgebene Exklaven. Heute setzt sich die Bevölkerung in beiden Städten mehrheitlich aus Christen, einer zahlreichen muslimischen Gemeinschaft sowie aus einer jüdischen Minderheit und einer hinduistischen Minorität zusammen. Im offiziellen Duktus wird in den Städten selbst die Bevölkerung nach den so genannten "vier Kulturen" d. h. nach der Zugehörigkeit nach der Religionsgemeinschaft Christen, Muslime, Hindus und Juden differenziert.
Die Arbeit über die Geographie der Zugehörigkeit und Ausgrenzung am Beispiel von Ceuta und Melilla ist in sechs Kapitel gegliedert. Ausführlich schildert der Autor mit Fragestellung, Konzeption und Methodik den theoretischen Rahmen der Untersuchung. Dabei werden mit "kollektive Identität", "politics of identity" und "politics of culture"
sowie "Macht" und "Territorialität" die tragenden theoretischen Begriffe der Studie herausgearbeitet. Die methodisch qualitativ angelegte Arbeit setzt sich hauptsächlich mit Texten und mit Diskursen in den beiden Städten auseinander, um die gestellte Problematik zu beantworten. Relativ breiten Raum nimmt die Schilderung der wichtigen historischen Entwicklung von Ceuta und Melilla ein, die aus unterschiedlichen Perspektiven beim muslimischen Al-Andalus ansetzt und bis zu christlichen Siegesfeiern im Jahr 2000 in Melilla ausgebreitet wird. Danach schildert der Verfasser die Bevölkerungsentwicklung, die Segregation und die sozioökonomische Dimensionen des alltäglichen Lebens der Menschen in den genannten Städten. Im vierten Kapitel kommt das zentrale Thema der Studie zur Darbietung: Die "vier Kulturen" und die Politik kollektiver Identitäten oder besser ausgedrückt, die Behauptung der españolidad, die christlich fundiert ist, gegenüber den Ansprüchen von muslimischen Gruppen; darunter spielen, so der Verfasser, die Berber-Bewegungen und die hebräische sowie die hinduistische Gemeinschaft eine geringere Rolle. Im fünften Kapitel werden die empirischen Ergebnisse nochmals im Licht des theoretischen Ansatzes diskutiert, bevor eine kurze informative Zusammenfassung in deutscher und englischer Sprache die Studie abschließt. Leider sucht man eine spanische Version der Zusammenfassung vergebens.
Verwirrend ist zunächst der Titel der Arbeit, da man eher an die Städte der vier Religionen oder an eine Kultur der vier Religionen denkt, aber nach der Lektüre der Studie wird deutlich, dass gewissermaßen ein Werbetext der Stadtväter, die das Bild vom "harmonischen Zusammenleben der vier Kulturen" zur offiziellen Selbstdarstellung ihrer Städte verwenden, zum Titel der vorgelegten Studie gemacht wurde. FRANK MEYER gelingt es auf hohem theoretischem Niveau, die Problematik von kollektiver Identität sowie Zugehörigkeit und Ausgrenzung zu diskutieren. Insbesondere die historische Perspektive, die zur Legitimation des aktuellen Zustandes herangezogen wird, verdient eine besondere Beachtung.
Anerkennung verdient die Arbeit insbesondere auch deshalb, da sie deutlich macht, dass die metatheoretische Erkenntnis, dass jegliches Wissen über die Welt auf subjektiven Konstruktionen und subjektiven Zuschreibungen zur sinnlich wahrnehmbaren Welt beruht, nicht einhergeht mit den lebensweltlichen Konstruktionen und lebensweltlichen Zuschreibungen durch die von Wissenschaftlern als Probanten thematisierten Menschen. Kollektive Identitäten, so der Autor, erscheinen den meisten beteiligten Individuen "als sehr real, an sich gegeben und teilweise handlungsbestimmend" und haben für die beteiligten Menschen weniger einen konstruktiven oder imaginären Charakter. Dies bedeutet wissenschaftlich ausgedrückt letztlich, dass alltagsweltlich gegenseitig "essentialistische Zuschreibungen" gemacht werden und diese Zuschreibungen konstituieren die gelebte Wirklichkeit der Gesellschaft! Damit wird deutlich, dass bei der Generierung von geographischen Theorien sich empirische Forschung mehr an dichten Beschreibungen der Lebenswelt orientieren sollte und, dass Metaerkenntnisse nicht den thematisierten Menschen unterstellt werden dürfen. Die empirischen Teile der Arbeit sind hervorragend und zeigen die Vertrautheit des Autors mit dem Gegenstand seiner Forschung. F. MEYER hat sowohl die empirische Kenntnis über die Gesellschaften in den Städten Ceuta und Melilla als auch die theoretischen Überlegungen zu kollektiven Identitäten von religiös und national geprägten Gemeinschaften vorangebracht.  
Autor: Anton Escher

Quelle: Erdkunde, 61. Jahrgang, 2007, Heft 2, S. 206-207