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Kategorie: Rezensionen

Martin Doevenspeck: Migration im ländlichen Benin. Sozialgeographische Untersuchungen an einer afrikanischen Frontier. Saarbrücken 2005 (Studien zur Geographischen Entwicklungsforschung 30). 313 S.

"Nur" eine Fallstudie zu Migrationsprozessen in Benin? Weit mehr als das! MARTIN DOEVENSPECK versteht seine Studie - zu Recht - als Beitrag zu einer zeitgemäßen sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung, die deutlich über "klassisch-räumliche", über Distanz und Richtung definierte Wanderungsanalysen hinaus reicht. Die gehaltvolle Arbeit widmet sich der Binnenmigration in einer kleinen Region im Westen Benins; sie steht damit einerseits in der Tradition von Studien zur ungelenkten Agrarkolonisation Westafrikas, wie sie u.a. von W. MANSHARD und T. SCHAAF durchgeführt wurden, wartet aber andererseits mit neuen Fragestellungen und Analyseansätzen auf. Es geht vor allem um die Konfliktträchtigkeit der kleinräumigen Binnenmigration (teilweise nur über Distanzen von wenigen Zehnern von Kilometern), die bislang in der Geographie nicht umfassend zur Kenntnis genommen worden ist.
Die umfangreiche Empirie ist eingebettet in das Konzept der Frontier, dessen Ursprünge in der nordamerikanischen Kolonisationsforschung liegen, das aber für den westafrikanischen Kontext um wesentliche Aspekte bereichert und modifiziert wird. Im Unterschied zu herkömmlichen Vorstellungen begreift DOEVENSPECK die Frontier nicht als Trennlinie oder leeren, der Besiedelung harrenden Raum, sondern als "Zone der wechselseitigen Durchdringung und Interferenz" (S. 20), in der es Aufnahmegesellschaften und Neuankömmlinge gibt, wo sich bestimmte neue soziale und politische Prozesse entfalten und es zu intensiven institutionellen Aushandlungsprozessen kommt.
Natürlich arbeitet DOEVENSPECK klassische Felder der Migrationsforschung ab, aber er bezieht stets neue Aspekte mit ein oder wirft einen neuen, zweiten Blick auf scheinbar Altbekanntes: So widmet sich seine Studie z.B. den Wanderungsmotiven, wobei die voranschreitende ökologische Degradation in den Herkunftsgebieten einen wichtigen Abwanderungsgrund darstellt, aber sie hinterfragt auch Hexerei und Schadenszauber als Migrationsursachen. Oder es geht um die Etablierung der Migranten im Zielgebiet, jedoch nicht nur im ökonomischen Sinne um Existenzsicherung in der "Fremde", sondern etwa auch um neue Machtkonstellationen, um Durchsetzungskräfte sowohl in den Migranten- als auch Aufnahmegesellschaften.
Besonders spannend ist die Beantwortung der Frage, warum es sich bei den untersuchten Migrationsprozessen nicht um einmalige Vorgänge handelt, sondern geradezu von einer Perpetuierung der (Binnen-)Migration gesprochen werden muss. Diese resultiert, so kann DOEVENSPECK belegen, hauptsächlich aus der Perpetuierung von Unsicherheit: kaum nachhaltig gewährleistete Ernährungssicherung, wechselnde Machtkonstellationen, konkurrierende Ansprüche auf Entscheidungskompetenzen, institutionelle Unberechenbarkeit. Letztere, dies ist interessant, beruht nicht etwa auf Lücken im sozialen und rechtlichen Regelwerk, sondern auf einer "institutionellen Opulenz" an der Frontier (S. 259), die nicht durch Hohl-, aber Spielräume gekennzeichnet ist. Diesen Regelpluralismus versuchen Migranten und Teile der Aufnahmegesellschaften permament zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen.
Die Studie trägt den etwas nichts sagenden Untertitel "Sozialgeographische Untersuchungen ..." - das trifft es wohl schon, aber es handelt sich vielleicht auch um eine Verlegenheitsformulierung in Ermangelung aussagekräftiger Begrifflichkeiten. Denn die Arbeit greift Konzeptionen der Politischen Ökologie, der Politischen Geographie und der Institutionenökonomik auf und besitzt darüber hinaus einen hohen enthnographischen Gehalt. Der Autor weist selbst auf die Gefahr hin, dass dieser multivariate Ansatz als Schwäche der Arbeit interpretiert werden könnte. Der Rezensent wertet die Vielschichtigkeit der Studie als ihre große Stärke!
Aber die Arbeit erfordert durchaus ein intensives Einlesen, da manche Argumentationsstränge über viele Seiten hinweg aufgezogen werden - an manchen Stellen hätte man sich eine deutlichere Untergliederung des Textes gewünscht. Schade auch, dass einige Abbildungen und Karten (insbesondere zur Ausweitung der Anbauflächen), z.T. aufgrund des Buchformats, zu klein geraten sind. Fazit: Die Arbeit ist nicht nur eine detaillierte, kenntnisreich verfasste regionale Fallstudie, sondern sie liefert in ihrer multivariaten Argumentation und theoretischen Einbettung einen hohen Erkenntnisgewinn weit über den Kontext Benin hinaus. Eine Bereicherung für die Migrations- und Entwicklungsforschung!
Autor: Fred Krüger

Quelle: Erdkunde, 61. Jahrgang, 2007, Heft 2, S. 216