Hans Gebhardt, Rüdiger Glaser, Ulrich Radtke und Paul Reuber (Hg.): Geographie. Physische Geographie und Humangeographie. München 2007. 1096 S.

Vier Herausgeber, über 120 Autoren, 6 Teile und 29 Kapitel, 1096 Seiten Umfang, das Gesamtgebiet der wissenschaftlichen Geographie in einem Band: Dieses Werk ist in der Tat exzeptionell in Anspruch, Ausstattung und Darstellung. Dass dabei manche Widersprüchlichkeiten und Defizite vorhanden sind, ist wohl unvermeidlich und auch den Herausgebern klar. Sie konstatieren einleitend, dass "die Fülle der Autoren und die Heterogenität, ja Gegensätzlichkeit der akademischen Perspektiven bis in erkenntnistheoretische Grundsatzpositionen hinein [...] ein Bild aus einem Guss" heraus unmöglich machen. Ob das einem Lehrbuch, das sich an Studierende wendet, zuträglich ist oder aber eher Verwirrung stiftet, ist eine wohl legitime Frage. Auf jeden Fall unterscheidet sich das Buch, das in Aufmachung, Stil und Anspruch ganz offenkundig englischsprachige "Textbooks" zum Vorbild hat und ihnen nacheifert, grundsätzlich von anglophonen Einführungen. Was dort von Einzelautoren (vgl. z.B. die klassischen Einführungen von H. DE BLIJ oder P. HAGGETT oder - für die Physische Geographie - A. GOUDIE) bzw. kleinen Autorenteams (z.B. MASSEY - ALLEN - SARRE für die Kulturgeographie) mit Erfolg praktiziert wird, gelingt im vorliegenden Falle - und wohl nicht ganz überraschend - nur bedingt: eine Einführung in das "ganze" Fach und seine divergierenden Teile.
Aufbau, Inhalt und Gliederung des Buches sind klar und eindeutig um die zentralen Teile IV (Physische Geographie, S. 185-567) und V (Humangeographie, S. 568-929) herum gruppiert. Die einleitenden Teile führen mit den Themen "Raum, Region und Zeit: Kategorien und Forschungsfelder der Geographie" (Teil I, S. 2-39), "Geographische Wissenschaft" (Teil II, S. 40-75) und "Die Arbeitsmethoden der Geographie" (Teil III, S. 76-187) in grundlegende Aspekte des Faches ein, blenden indes disziplinhistorische Rückblicke - mit Ausnahme eines zweiseitigen Exkurses zur Geschichte der Geographie oder teildisziplinärer Entwicklungstrends - weitestgehend aus. Ob nicht gerade historische Rekurse manche der von den Herausgebern immer wieder betonten "Multi-Paradigmata", Ausdifferenzierungen und auch offenkundigen kontextualen Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Geographie wenn schon nicht erklären, so doch zumindest hätten verständlicher machen können? Verdienstvoll und anerkennenswert sind demgegenüber die vergleichsweise umfangreichen Diskussionen und Ausführungen zur fachinternen wie auch fächerübergreifenden Transdisziplinarität. Diesem so genannten "Brückenfach"-Charakter der Geographie trägt vor allem der abschließende Teil VI Rechnung. In ihm werden "Natur und Gesellschaft: Schnittfelder von Physischer Geographie und Humangeographie" (S. 930-1076) in einer begrüßenswerten Ausführlichkeit und detaillierten Differenzierung angesprochen und diskutiert. Vorleistungen zu diesen potentiellen Beiträgen einer wissenschaftlichen Geographie zur Mensch-Umwelt-Forschung bringen bereits die Schlusskapitel der beiden Zentralteile des Buches ("Beispiele aktueller interdisziplinärer Forschungsfelder der Physischen Geographie" bzw. der Humangeographie), die zahlreiche Themen und Felder problembezogener Kooperation mit Nachbardisziplinen aufzeigen.
Die Teile IV und V des Buches mit ihren Schwerpunkten "Physische Geographie" und "Humangeographie" folgen indes mehr oder weniger traditionellen Gliederungsprinzipien des Faches. So wird die Physische Geographie in fünf Kapiteln dargestellt, die den Geofaktoren Klima - Relief - Boden - Pflanzen und Tiere - Wasser folgen, um dann "Landschafts- und Stadtökologie" als eine Art Synopse der Physischen Geographie zu diskutieren. Im Gegensatz zur klar gegliederten, wenn auch konventionell abgehandelten Physischen Geographie, stellen sich die insgesamt elf Kapitel der Humangeographie ungleich heterogener, gelegentlich gar verwirrend dar. So wird beispielsweise in der Einleitung
zum Kapitel "Wirtschaftsgeographie" diese in einem Exkurs in sieben Teildisziplinen untergliedert. Einige von ihnen tauchen dann als eigenständige Kapitel gesondert (z.B. die zuvor genannten Teile "Bergbau" oder "Energiewirtschaft"), andere mit einer veränderten Terminologie (z.B. die im Überblick genannte Agrargeographie allenfalls als Teil einer zuvor abgehandelten Geographie des ländlichen Raumes!), wiederum andere gar nicht mehr auf. Explizite Ausführungen zu einer Industriegeographie sucht man vergebens; auch in dem fast 18-seitigen und insgesamt über 3000 Stichworte auflistenden Index findet sich kein Hinweis darauf! Wenn dann noch einzelne Kapitel von drei Autoren neben- und nacheinander bestritten werden, können von den Herausgebern selbst erkannte nomenklatorische, terminologische oder definitorische Probleme nicht ausbleiben. Dieses gilt umso mehr, als manche der Exkurse eher feuilletonistischen Umschreibungen von Begriffen denn definitorischen Präzisierungen gleichen. Des ungeachtet wird man den Versuch einer Zusammenschau des Gesamtfaches zwischen zwei Buchdeckeln respektieren müssen, zumal - wie angedeutet - die Ausführungen zu intra- und interdisziplinärer Zusammenarbeit im Hinblick auf problemlösungsorientierte Fragestellungen anregend und lehrbuchinnovativ sind. Wer indes Näheres und Detailliertes über einzelne Teilgebiete der Geographie erfahren will, wird auch in Zukunft nicht auf die breite Palette etablierter Einführungen in deutscher oder englischer Sprache verzichten können. Gerade hier zeigt sich zudem ein fundamentaler Gegensatz zu englischsprachigen Lehrbüchern. Sie haben die sektorale Darstellung geographischer Teildisziplinen längst zugunsten thematischer Problemfelder oder gegenwartsbezogener Querschnittsthemen aufgegeben. HAGGETs "Geography. A Global Synthesis" (2001; dt. Ausgabe 2004) ist ein schöner Beleg.
Die Ausstattung des großformatigen und durchweg farbigen Bandes ist opulent. Das gilt nicht nur für den Text selbst, dessen Exkurse, Fazitformulierungen und Tabellen farbig hervorgehoben sind, sondern ebenso für die zahlreichen eindrucksvollen und aussagekräftigen Fotos und Diagramme. Jedes Kapitel wird mit Hinweisen auf weiterführende und zitierte Literatur abgeschlossen. Insofern stellt das angezeigte Werk eine inhaltlich facettenreiche, typographisch einladende und fachwissenschaftlich anregende Publikation dar, die sogar manchen fachlich Interessierten zum "Schmökern" einladen mag. Ob das Buch allerdings den selbstgesteckten Anspruch erfüllen kann und wird, eine kohärente und in sich stimmige Gesamtschau der Geographie zu vermitteln, mag man mit guten Gründen hinterfragen. Auch das Eingeständnis der Herausgeber, mit Definitionen sparsam umgegangen zu sein, und ihre Empfehlung, "das Lehrbuch zusammen mit dem Lexikon der Geographie zu nutzen" (S. VI), ist irritierend. Klarheit, Unmissverständlichkeit und terminologische Prägnanz sollten doch gerade für ein Lehrbuch selbstverständlich sein. Und der Verweis auf das im gleichen Verlag erschienene vierbändige Lexikon der Geographie als ideales Nachschlagewerk ist dann doch vielleicht etwas zu arg. Auch hier kann übrigens HAGGET als Vorbild dienen: Seine Einführung ist versehen mit einem 25-seitigem Anhang mit
Definitionen und begrifflichen Präzisierungen! Ob der angesichts der Ausstattung zwar nachvollziehbare, dennoch aber für Angehörige der Zielgruppe hohe Anschaffungspreis von 89,50 " die Anschaffung des Buches befördern wird, muss abgewartet werden. Erwähnenswert ist die Verfügbarkeit einer Bild-CD-ROM "Geographie", die das umfangreiche Datenmaterial des Buches (Fotos, Tabellen, Exkurse, Diagramme etc.) für Präsentationen in Lehrveranstaltungen zum Extrapreis von 25,00 " anbietet.
Zusammenfassend bleibt ein zwiespältiger Eindruck, der von den Herausgebern bereits vorgeahnt scheint. Einer beeindruckenden Vielfalt von Themen- und Problemfeldern stehen thematische Lücken und definitorisch-terminologische Unklarheiten gegenüber. Ansprechend und anregend sind zahlreiche Exkurse in Form von Begriffsklärungen (nicht Definitionen), Handlungsanweisungen für bestimmte metho-dische Vorgehensweisen, Darstellungen moderner Forschungstrends (einschließlich ihrer oftmals problematischen Umsetzungen!), ergänzende Sachinformationen zu bestimmten Themenfeldern oder auch Fallbeispiele. Insgesamt: ein extrem ambitiöser, aber auch mit Defiziten und notwendigen Nachbesserungspotentialen ausgestatteter Versuch, das Fach Geographie zeitgemäß neu zu definieren. Das leider viel zu kurze Kapitel 4 (Das Drei-Säulen-Modell der Geographie), gemeinsam verfasst von den Herausgebern des Bandes, gibt hierzu auf nur 10 Seiten mancherlei Anregungen, die dann allerdings nur sehr bedingt zum Leitfaden der Gesamtdarstellung des Faches und seiner Teile werden. So sieht der Rezensent denn den Wert des Buches weniger in seinen eher konservativen Kernkapiteln 5 und 6 als vielmehr in den innovativen und zu Nachdenklichkeit wie auch zu Widerspruch reizenden Ausführungen zu Raum, Region und Zeit als kategorialen Grundbegriffen des Faches, zu seinen Arbeitsmethoden sowie in den begrüßenswert ausführlichen Diskussionen um Integrationspotentiale und fächerübergreifende Kooperationsmöglichkeiten der Geographie als einer Disziplin an der Schnittstelle zwischen Natur und Gesellschaft.
Autor: Eckart Ehlers

Quelle: Erdkunde, 61. Jahrgang, 2007, Heft 2, S. 216-218