Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt/M. 2006. 334 S.

Die Ausgangsthese besteht in der vielfach behaupteten Raumvergessenheit der Soziologie. Schroer untersucht zunächst Raumkonzepte in Philosophie und Physik, stellt einige Raumbegriffe von klassischen und heutigen Soziologen vor und wendet sich dann exemplarischen Analysen politischer, urbaner, virtueller und körperbezogener Räume zu. Sein theoretisches Basisaxiom besagt, dass die Soziologie bisher weitgehend ein Raumverständnis bevorzugt hat, das sich auf die Nähe und den Ort zuungunsten von Ferne und Distanz konzentrierte.

Schroer möchte dagegen einen Ansatz entwickeln, der dem Zeitalter von Computern, Handys und allgemeiner Beschleunigung besser entspricht und die Privilegierung der Nähe aufgibt. Er sieht dabei einen Konflikt in der soziologischen Raumtheorie, der sich zwischen einem substanziellen und einem relativistischen Verständnis sowie zwischen einer banal-physischen und einer konstruktivistischen Perspektive abspielt. Seine Position in diesen Auseinandersetzungen ist  eindeutig; er plädiert für eine relational-konstruktivistische Sichtweise und liefert dafür in den verschiedenen Kapiteln eine Vielzahl von Begründungen.
Lokale Verortungen und Ortsgebundenheit treffen heute nicht mehr zu, räumliche Bezüge sind flexibel, zufällig und sehr fragil geworden - so seine zentralen Beobachtungen der Wirklichkeit.
  Es handelt sich hier um sehr einfache und klare Aussagen, die bei näherer Betrachtung nur wenig Aussagewert haben. Tatsache ist, dass die Soziologie seit ihrer Begründung und stets auch in ihrer weiteren Entwicklung, bis heute, die räumlichen Themen und Bereiche keineswegs vergessen hat. Sie hat sie nicht einmal vernachlässigt. Das gilt schon für Marx und Engels, das gilt für Durkheim, Tönnies, Simmel, Weber, Sombart, Park, McKenzie, die Lynds und viele andere soziologische Klassiker - in ihren Werken spielen räumliche, insbesondere städtische Analysen eine wesentliche und häufig grundlegende Rolle, auch in methodischer Hinsicht. Der Vorwurf der Raumausblendung trifft auch nicht auf die Zeit nach 1945 oder irgendwie spezifisch auf die Bundesrepublik zu. Horkheimer/Adorno, René König, Hans Paul Bahrdt, Alexander Mitscherlich, Jürgen Friedrichs, Hartmut Häußermann, Helmut Brede, Bernhard Schäfers, Bernd Hamm, Jens Dangschat stehen für eine lange anhaltende und profunde Raumkompetenz in diesem Land, die sie viele Jahre vor dem von einigen jetzt plötzlich festgestellten spatial turn bewiesen haben. Im internationalen Spektrum sieht es nicht anders aus. Einige der Soziologie-Stars wie Castells, Giddens, Sassen und Sennett befassen sich nicht nur mit Raumthemen, sondern zentrieren sie und bilden in diesem Feld entscheidende Begriffe und Methodologien aus, und das haben sie schon gemacht, als die falsche These von der Raumvergessenheit noch fester Bestand der wenig überprüften Generalaussagen vieler Sozialwissenschaftler zu diesen Thema war und noch niemand von einer Raum-Welle in der Soziologie sprach. Richtig ist, dass es etwa seit dem Ende der 90er Jahre eine gewisse Tendenz gibt, den Raumbegriff zunehmend neu zu reflektieren, vor allem in soziologischen und anderen sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen, nicht mehr und nicht weniger.
  Mein zweiter Kritikpunkt ist Schroers Rückgang auf die Philosophie und die Physik der Vergangenheit. Es ist heuristisch und methodologisch unsinnig, sich bei Platon, Kant, Newton, Leibniz oder Einstein Bausteine für eine Weiterentwicklung von Raumsoziologie zu suchen. Das tut der Autor auch nicht, er streift deren Werk nur, um seine schlichte und wahrscheinlich auf den heute grassierenden Reduktionismus binären Denkens zurückgehende Weltsicht (denn auch Raumbetrachtung oder -theoretisierung ist nichts anderes als Gesellschafts- und Weltanalyse) mit der plastisch-simplen Gegenüberstellung von Absolutismus/Substanzialismus und Relativismus/Konstruktivismus zu erläutern. Damit werden alle diese Autoren aus dem Kontext ihrer Zeit und ihrer wissenschaftlichen Systeme herausgelöst und für ein Unternehmen instrumentalisiert, das problematisch und dezisionistisch erscheint.
  Die Hypothese über die in der Raumsoziologie bevorzugte Nähe kann in gewisser Weise akzeptiert werden. Die einschlägigen Soziologinnen und Soziologen haben sich bis etwa zur Mitte der 90er Jahre in erster Linie mit der Stadt als empirischem und theoretischem Objekt befasst und daraus ihre Konzeptionen abgeleitet. Seit diesem Zeitpunkt gibt es ein bemerkenswertes Wachstum international vergleichender bzw. nationalstaatlich orientierter Studien mit Raumbezügen, vielfach modifiziert, aber doch oft methodisch und methodologisch ähnlich sturkturiert.
  Schroers Einschätzung der Gegenwart als Zeitalter von Computer und Beschleunigung verdeutlicht seine grundlegende theoretische und analytische Schwäche. Die Perspektive auf die Technologie und die Bewegung ersetzt jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der sozialen oder sozialräumlichen Wirklichkeit, in der auf jeder räumlichen Ebene, sei es das Stadtviertel, die Region, das Land, der internationale oder der globale Raum, Disparitäten von zunehmenden Ausmaßen und in steigender Qualität die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zum Ausdruck bringen, eine Entwicklung, vor der die postmodern fundierten Sozialtheoretiker, zu denen auch Schroer als Konstruktivist zählt, gerne die Augen verschließen, indem sie Ungleichheiten und Klassengegensätze als Differenz verklären, als Unterschiede, die ja doch produktiv seien, oder die sehr stark von der Wahrnehmung durch den einzelnen Menschen abhingen. Gerade dagegen muss weiterhin darauf bestanden werden, dass deutliche soziale Unterschiede eben nicht individuell im Bewusstsein konstruiert oder ausgedacht werden, sondern massiven, materiellen und substanziellen Charakter haben, und dass sie nur durch materielle (und natürlich auch ideelle) politisch-gesellschaftliche Veränderungen zu überwinden sind. Es kann für ernsthafte Sozialwissenschaft nicht darum gehen, soziale Miseren durch eine individualistisch-idealistische Sichtweise zu erklären und erträglicher machen zu wollen; leider wirken aber die konstruktivistischen Denkmodelle immer in diese Richtung.
  Die Denkfehler des Konstruktivismus schlagen auch in den exemplarischen Analysen durch. Der Blickwinkel ist extrem individualistisch, es scheint keine Strukturen und Verhältnisse in den Räumen mehr zu geben. Die Nationalstaaten lösen sich zwar nicht auf, sind aber geschwächt und es entstehen neue Räume; räumliche Bezüge werden diversifiziert (diese letzte These ist nichtssagend, denn sie gilt für die gesamte Geschichte der Menschheit; vom Nomadentum bis zur heutigen Entwicklung haben sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und Verhaltensweisen immer die räumlichen Bezüge verändert, eine typisch ontologische Aussage, die keinen wirklichen Inhalt hat, wie alles Ontologische). Binäres Denken triumphiert: Deterritorialisierung bedeutet Reterritorialisierung, Kommunikation unter Anwesenden wird durch Kommunikation unter Abwesenden ergänzt oder ersetzt, es gibt keinen dialektischen Sprung mehr, sondern nur noch ein Nebeneinander von Kulturen, Regimes, Lebensstilen usw., Räume überlagern sich, sie werden durch nichts mehr zusammengehalten.
  Am Ende findet sich dann das gleichzeitige Öffnen und Schließen von Raum und Körper, wobei sich die Grenzen verschieben und undeutlich werden, der Cyberspace bringt die endgültige Vermischung von Virtuellem und Realem. Fragmentierung und Segregation sind Prozesse, die es nicht schlicht gibt, sie werden nur mit diesen Begriffen belegt. Aber das böse Erwachen kommt zuletzt doch. Alle scheinbar ohne Raum und ohne Körper funktionierenden globalen Austauschprozesse können nicht verhindern, dass die Menschen immer stärker auf eben den Raum und den Körper zurückgeworfen werden.
  Die ideologiekritische Bewertung eines solchen Fazits ist angebracht. Es handelt sich um eine kulturpessimistische, zirkulär angelegte Raumtheorie, in der gesellschaftliche Verhältnisse undurchschaubar sind und vom Zufall bestimmt werden. Wenn der Raum in seiner heute unendlichen Vielfalt und Rätselhaftigkeit immer mehr zum Schicksal wird, dann ist es um Demokratie, Freiheit und neue Ideen für eine bessere Zukunft schlecht bestellt; Kontingenz und Schicksalsglaube zusammen bilden den Urgrund, die Basisnahrung für eine Ideologie, in der das kapitalistische Gesellschaftssystem mit seinen schweren und unheilbaren Geburtsfehlern - Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Hunger und psychisches Elend - aus dem Denken der Soziologie ausgegrenzt und alles, was sich hier mit bestimmbaren Ursachen abspielt, auf einen individuell konstruierten/interpretierten Raum und einen ebenso betrachteten Körper zurückgeführt wird. Noch eine Raumsoziologie ohne Gesellschaft, ein Unternehmen ohne gesellschaftswissenschaftlichen Inhalt, ein Kreislaufmodell der räumlichen Synchronie ohne historisch-gesellschaftliche Diachronie. Aber logisch kohärent, denn am Ende kehrt der Verfasser an seinen theoretischen Ausgangspunkt, das Raumkonzept aus Naturphilosophie und Physik zurück. Vielleicht hat der Konstruktivismus nur den Zweck, gesellschaftstheoretische Sichtweisen als fehlgeleitete Pfade in den Konservatismus naturwissenschaftlichen Systemdenkens zurückzubetten.
Autor: Heinz Arnold

Quelle: geographische revue, 9. Jahrgang, 2007, Heft 1/2, S. 91-94