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Kategorie: Rezensionen

Hans-Werner Wehling: Großbritannien. Darmstadt 2007. 224 S.

Trotz seiner Nähe zu Kontinentaleuropa und seiner nunmehr schon dreieinhalb Jahrzehnte währenden Zugehörigkeit zur Europäischen Union hat Großbritannien in der deutschsprachigen Geographie stets eine untergeordnete Rolle gespielt. So sind seit den siebziger Jahren nur von zwei deutschen Geographen (Jäger 1976 und Heineberg 1983 bzw. 1997) länderkundliche Darstellungen Großbritanniens verfasst worden. Mit der vorliegenden Länderkunde trägt Hans-Werner Wehling wesentlich dazu bei, dieses Defizit abzubauen. Sein Werk über unser westeuropäisches Nachbarland ist interessant, aktuell und absolut lesenswert.

An vielen Stellen des Buches wird deutlich, dass sich Wehling seit mehr als drei Jahrzehnten intensiv mit Großbritannien befasst und auf zahlreichen Reisen tiefe Einblicke in die Kultur, Geschichte und die räumlichen Strukturen des Landes gewonnen hat. Dementsprechend wird der Leser mit einer großen Fülle an Details konfrontiert. Um dieses Wissen zu vermitteln, hat sich der Autor für eine Mischform aus traditionellem länderkundlichen Schema und problemorientiertem Ansatz entschieden. Obwohl sich eine Reihe guter Gründe für dieses Konzept anführen ließen, wird auf eine Begründung dieser durchaus eigenwilligen Herangehensweise verzichtet. Vor allem vor dem Hintergrund einer gegenwärtig sehr kontrovers geführten Diskussion über den Wert länderkundlicher Abhandlungen in der Geographie wäre die Darlegung des Konzeptes jedoch durchaus lohnend und wertvoll gewesen.
An den Beginn seiner sich über elf Kapitel erstreckenden Ausführungen hat der Autor ein Einführungskapitel gestellt, in dem er seine Leser im Überblick mit Großbritannien vertraut macht. Hier werden die wichtigsten Fakten zu Lage, Landesnatur, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie die Grundzüge der Landesstatistik ausgebreitet. Die systematische Darstellung geographischer Sachverhalte beginnt mit einer detailreichen Aufarbeitung der physischen Geographie Großbritanniens. Ausführlich geht Wehling auf die Reliefgenese, die naturräumliche und klimatische Gliederung sowie die edaphischen und hydrologischen Grundlagen ein. Anschließend werden wichtige Phasen der territorialen und konstitutionellen Entwicklung nachgezeichnet. Insgesamt ist dieser Einstieg in die länderkundliche Darstellung Großbritanniens durchaus plausibel, da ohne Grundkenntnisse der naturräumlichen Ausstattung und der Historie wichtige wirtschafts- und sozialgeschichtliche Prozesse, beispielsweise der Kolonialismus und die industrielle Revolution nur unvollständig eingeordnet werden können. Folgerichtig widmet der Autor der Industrialisierung und ihren Folgen gleich ein ganzes Kapitel. Geringere Beachtung schenkt er allerdings der agrarischen Revolution des 17. Jahrhunderts. Sie findet erst in einem späteren Kapitel Erwähnung. Dabei hat, wie die industrielle Revolution, auch der agrarisache Umbruch zu irreversiblen gesellschaftlichen Veränderungen beigetragen. An die Aufarbeitung der industriellen Entwicklung schließen sich zwei Kapitel an, in denen die Grundlagen der Bevölkerungs- und Siedlungsgeographie Großbritanniens dargestellt werden, daran schließen sich dann Ausführungen über die ländlichen Räume, die Landwirtschaft und den Verkehr an. Der jüngere Strukturwandel Großbritanniens im Zeichen von Deindustrialisierung, Tertiärisierung und Globalisierung sowie sozioökonomische Disparitäten sind Gegenstände der folgenden Kapitel. Ein mit "Einblicke" überschriebenes Kapitel, in dem der Autor den Leser mit der etwas eigenartigen Kombination aus Monarchie und britischem Tourismus vertraut macht, beschließen die 224 Seiten starke Länderkunde.
Zwar sind die Themen, die in einer länderkundlichen Darstellung Beachtung finden, stets Ergebnis einer subjektiven Entscheidung des Autors. Dennoch überrascht der Verzicht auf die Themen Handel und Konsum, die in einer zeitgemäßen Länderkunde einfach nicht fehlen sollten. Schließlich ist vor allem der Einzelhandel eine tragende Säule der britischen Volkswirtschaft. Er ist nicht nur wichtiger Arbeitgeber, sondern auch ein Spiegelbild der britischen Gesellschaft und Alltagskultur. Mit seinen mittlerweile über 40 factory outlet centers, den zahlreichen Malls nach US-amerikanischem Vorbild und dem großflächigen Lebensmitteleinzelhandel stellt die britische Einzelhandelslandschaft zudem einen bemerkenswerten Sonderfall in der Europäischen Union dar, über den der Leser leider gar nichts erfährt. Ein zweites, kleineres Manko der Länderkunde ist die gelegentliche Überfrachtung einzelner Abschnitte mit zu vielen Informationen. So hätte zumindest in der Einleitung eine sich über zwei Buchseiten erstreckende Tabelle mit Flächenangaben und Einwohnerzahlen der britischen Counties verzichtet werden können, sie wäre im Anhang zweifellos besser aufgehoben gewesen. Geteilter Meinung kann man auch über den Wert der akribischen Feingliederung Großbritanniens in 83 Reliefeinheiten (S. 12-22) sein, zumal auf diese Raumgliederung in den späteren Kapiteln nicht mehr Bezug genommen wird.
Angesichts der mannigfaltigen sonstigen Qualitäten, die das Buch besitzt, fallen diese Schwächen allerdings kaum ins Gewicht. Besonders hervorzuheben ist die durchgängig hervorragende Qualität des Textes, der durch klare Sätze und eine redundanzfreie Sprache überzeugt. Hilfreich sind die zahlreichen Zwischenüberschriften, die den Text nicht nur strukturieren, sondern auch das Finden von Informationen erheblich erleichtern. Hervorzuheben ist auch die reichhaltige Ausstattung des Bandes mit farbigen Karten, Kartogrammen, Diagrammen, Tabellen und Bildern. Sie lockern nicht nur den Text auf, sondern unterstützen auf anschauliche Weise im Text getroffene Aussagen. Die meisten dieser Karten basieren auf eigenen Entwürfen und aktuellem Zahlenmaterial. Zu bemängeln sind allenfalls die teilweise zu sparsamen Beschriftungen, vor allem in den Flächenkartogrammen (z.B. S. 78, 81, 82 und 84). Die mit Großbritannien weniger gut vertrauten Leser werden es sicher zu schätzen wissen, wenn in der nächsten Auflage die Kartogramme wenigstens mit den Namen der wichtigsten Großstädte versehen sind. Ausgesprochen hilfreich sind die an den Beginn eines jeden Kapitels gestellten Überblicke, wo in Form von Schlüsselsätzen die wichtigsten Fakten zusammengestellt wurden. Ohnehin ist das attraktive Layout des Bandes hervorzuheben. Kastentexte, die gelungene Verzahnung von Abbildungen und Text und die ansprechende graphische Gestaltung der Buchseiten tragen dazu bei, dass man das Buch gerne zur Hand nimmt, sei es zum konzentrierten Lesen oder nur zum neugierigenStöbern.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Hans-Werner Wehling mit seiner Länderkunde Großbritanniens ein großer Wurf gelungen ist. Trotz kleinerer Mängel ist das Buch sowohl Kennern Großbritanniens als auch Neulingen uneingeschränkt zu empfehlen. Es ist zu hoffen, dass sein Werk im Kreise von Dozenten, Lehrern, Studierenden, Schülern und sonstigen an Großbritannien Interessierten weite Verbreitung finden wird.
Autor: Klaus Zehner

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 52 (2008) Heft 1, S. 69-70