Thorsten Enge: Cluster im Strukturwandel alter Industrieregionen: Das Ruhrgebiet und Glasgow im Vergleich. Marburg 2005. 327 S.

Lutz Krafft: Entwicklung räumlicher Cluster. Das Beispiel Internet- und E-Commerce-Gründungen in Deutschland. Wiesbaden 2006. 641 S.

Kerstin Press: A Life cycle for clusters? The dynamics of agglomeration, change, and adaptation. Heidelberg 2006. 245 S.

Bei der Erforschung wirtschaftlicher Cluster hat die zeitliche Dimension in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Drei neuere Dissertationen widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven der Entwicklung von Clustern. Lutz Krafft untersucht aus betriebswirtschaftlicher Sicht die Lokalisierung von Internet- und E-Commerce-Gründungen in Deutschland. Aufgrund eines glücklichen Zeitraums der Untersuchung zwischen Oktober 1999 und Juni 2003 konnten der schnelle Aufstieg und Niedergang der New Economy sowie die Clusterungsprozesse für die Internet-Branche beschrieben werden.

Da  naturgemäß die amtliche Statistik für eine erst entstehende Branche nur wenige Daten bereithält, arbeitet Krafft mit einem Methodenmix aus Datenbank- und Internetrecherche, Online-Befragung und Experteninterview. Die empirische Darstellung beruht auf der Auswertung von 930 standardisierten Fragebögen. Daneben werden die Standorte und etwaige Standortwechsel für rund 10.000 Unternehmen kartiert und dabei 79 räumliche Unternehmenskonzentrationen in Deutschland identifiziert, deren Unternehmensbesatz nach verschiedenen Kriterien verglichen wird. Den Hauptteil der Untersuchung nimmt der empirische Test von Hypothesen zu Einflussfaktoren der Clusterbildung ein, unter anderem zur Siedlungsstruktur, Nachfrage, Beschäftigung, Forschung sowie Kapitalbeschaffung. Räumlich wird keine starke Clusterbildung festgestellt. Die disperse Verteilung von Unternehmen der Internet-Branche mit der herausgehobenen Stellung einiger Großstädte (München, Hamburg, Berlin), wie sie bereits von anderen Studien beobachtet wurde, wird bestätigt. In den führenden zehn Regionen sind gut 43 % aller Unternehmen vertreten (246). Offensichtlich sind viele Internet-Dienstleistungen als zentrale Güter einzuschätzen, die in Oberzentren angesiedelt sind und den regionalen Unternehmen und Konsumenten angeboten werden. Daneben fördert die Studie eine Vielzahl an interessanten Einzelergebnissen zur Internet-Branche zu Tage: Beispielsweise wird die hohe Bedeutung der persönlichen Bindung von Gründern an ihren Standort belegt (261) sowie die größere Bedeutung lokaler Gründungsaktivität gegenüber Umzugsaktivität für das Clusterwachstum aufgezeigt (327). Insgesamt steht das empirische Design der Arbeit, das umfassend dokumentiert ist und dessen mögliche Schwachstellen vorbildlich diskutiert werden, weit über dem üblichen Standard von Dissertationen. Konzeptionell grenzt sich Krafft von der wirtschaftsgeographischen Clustertheorie ab, an der er die Definition von Einflussfaktoren vermisst, die voneinander unabhängig auf die Clusterbildung wirken (35). Allerdings führt sein Test von 23 Einflussfaktoren in der Regressionsanalyse nur bei sieben Parametern zu Ergebnissen. Die identifizierten Faktoren (u.a. Arbeitsqualifikation, lokales Marktpotenzial) deuten darauf hin, dass eine stärkere Ausrichtung auf branchenspezifische Faktoren zu klareren Ergebnissen geführt hätte (319). Zudem bleibt es fraglich, ob ein Forschungsdesign, das die Unabhängigkeit der Einflussfaktoren betont, für den Forschungsgegenstand "Cluster" gefunden werden kann. Hier wäre ein stärkerer Anschluss an die wirtschaftsgeographische Clusterdiskussion, die gerade die Interdependenz und Spezifik von Einflussfaktoren betont, hilfreich gewesen. In der Summe hat Krafft einen beeindruckenden thematischen Querschnitt und zeitlichen Längsschnitt der Internet-Branche vorgelegt, die Studie kann sowohl für die Clusterforschung wie für die Gründungsforschung als Erkenntnisfundgrube dienen.
Aus wirtschaftssoziologischer Sicht vergleicht Thorsten Enge Clusterbildungen im Ruhrgebiet und in der Region Glasgow. Der Autor untersucht gegenwärtige Clusterprojekte vor dem Hintergrund der industriellen Verbundwirtschaft, die sich in beiden Regionen über viele Jahrzehnte entwickelt hat. "History matters" ist somit die Grundthese dieser Studie: Potenziale der Unternehmensvernetzung beruhen häufig auf Kompetenzen und Institutionen, die über einen langen Zeitraum entstanden sind. Die Rekonstruktion der wirtschaftlichen Entwicklung und der Akteurskonstellationen des Schiffsbaus und der Stahlindustrie im Raum Glasgow zeigt jedoch zunächst, dass es sich hier um abgeschlossene Zyklen des Aufstiegs und Niedergangs regionaler Branchenkonzentrationen handelt. Enge kommt daher zum Schluss, dass die altindustriellen Cluster keinen Beitrag zu den Branchenfeldern (u.a. Kreativwirtschaft, Biotechnologie und Optoelektronik) leisten konnten, die gegenwärtig von der schottischen Wirtschaftsfördergesellschaft unterstützt werden (117). Eine stärkere Verbindung besteht zur Elektronikindustrie ("Silicon Glen"), die jedoch aufgrund der beschränkten Wertschöpfungstiefe und der starken Abhängigkeit von externen Konzernen kaum als Cluster mit einer endogenen Technologie- und Produktionsentwicklung zu betrachten ist (123). Wenn also heute neue prosperierende Ansätze regional konzentrierter Branchen zu registrieren sind, so sind dies vor allem Abkömmlinge der Glasgower Universität, der BBC Scotland und der Kunst- und Medienszene sowie eines handlungsfähigen, kulturell gesättigten Stadtbürgertums. Die Pointe der F allstudie scheint folglich eher "urbanism matters" zu lauten (255). Eben dieser Humus für wirtschaftliche Neuorientierungen fällt im Ruhrgebiet dünner aus. Dagegen war und ist eine erhebliche politische und mentale Bindung an die dominierende Montanindustrie festzustellen. Neben den Gefahren des institutionellen und kognitiven Lock-in (245) zeigen sich auch klare Verbindungslinien zu den gegenwärtigen Hoffnungsträgern. Beide vorgestellten Clusterinitiativen im Ruhrgebiet besitzen sowohl über ihren Branchenzuschnitt wie auch über ihre Impulsgeber deutliche Bezüge zur alteingesessen Großindustrie. Dabei liegen die Hauptmotive der Akteure jedoch nur im geringen Maß in der Ansiedlung innovativer Branchenzweige, mit denen die Großunternehmen in wirtschaftlichen und technologischen Austausch treten möchten. Vielmehr sind Interessen der Immobilienverwertung, der Substitution von Arbeitsplatzverlusten und der Imagepflege vorrangig. Vor diesem Hintergrund bleibt zu fragen, ob die vorgestellten Brancheninitiativen eigentlich der Überwindung oder dem Fortdauern der "institutionellen Sklerose" im Ruhrgebiet zuzuordnen sind. Hier erwartet Enge, auch mit dem Blick auf das Handeln der staatlichen Akteure, eher negative Spätfolgen, die die regionalwirtschaftliche Erneuerung weiter hinauszögern.
Kerstin Press betrachtet aus betriebswirtschaftlicher Perspektive und mit systemwissenschaftlichen Methoden die Fähigkeit von Clustern, den Wandel ihrer Umwelt durch eigenen Wandel zu bewältigen. Die Titelfrage ihres Buches ("A life cycle for clusters?") beantwortet Press negativ und macht auf die Kontingenz der Clusterentwicklung aufmerksam. Zunächst arbeitet sie in Kap. 2 den deterministischen Charakter verschiedener Modelle der Clusterentwicklung heraus (u.a. die Industriezyklus-Hypothese, die New Economic Geography und die Pfadabhängigkeitsmodelle). In diesen Modellen wird die räumliche Verteilung der Unternehmen aus den Ausgangsbedingungen der Umwelt sowie den Merkmalen und Präferenzen der Unternehmen abgeleitet. Auch der Stillstand und Niedergang von Clustern ist damit in den Ausgangsbedingungen bereits angelegt. Demgegenüber betont Press den Freiheitsgrad der Clusterakteure. Entsprechende Handlungsspielräume von Clustern zeigt sie in Kap. 3 anhand von Konzepten der Interaktion von Clusterakteuren sowie der institutionellen Ausstattung von Clustern auf. Anschließend destilliert sie in Kap. 4 wesentliche Eigenschaften von Clustern. Dabei wird Handeln nicht auf der Ebene individueller Akteure, sondern auf der Ebene des Clusters als kollektivem Akteur betrachtet, da nur so die Handlungsrestriktionen der Individuen in einem institutionellen Feld hinreichend berücksichtigt werden können (67). In diesen analytischen Abschnitten ihrer Arbeit geht die Autorin souverän mit der umfangreichen Clusterliteratur um und kann mit einer klaren Argumentation die wesentlichen Wirkungszusammenhänge aus unterschiedlichen Theoriekulturen aufeinander beziehen. Die identifizierten Eigenschaften - u.a. Mehr-Ebenen-Struktur, nicht-lineare Interaktion zwischen Akteuren und Offenheit gegenüber der Umwelt - qualifizieren Cluster als komplexe adaptive Systeme. In einem Simulationsmodell spielt Press anschließend unterschiedliche Grade der Arbeitsteilung und unterschiedliche Koordinationsmechanismen von individualistischen bis kollektivistischen Strategien durch. Das Ergebnis ist zum einen ein optimaler Grad an Arbeitsteilung, der die Leistung von Clustern maximiert. Zum anderen sind die kollektivistischen den individualistischen Strategien an Leistungsfähigkeit überlegen (135). Die zwischen diesen Extremen liegenden Strategien der Allianz sowie der Gruppenbildung mit Leitunternehmen erreichen nur eine mittlere Leistungsfähigkeit. Da nach den empirischen Falluntersuchungen die letztgenannten Strategien in Clustern jedoch überwiegen, sieht sich die Autorin zu einigen zusätzlichen Überlegungen gezwungen (153 ff.). Die inhaltlichen Überlegungen von Press zu den Anforderungen an Simulationsmodelle bleiben überzeugend, sie zeigen jedoch auch, dass die Aussagekraft von Simulationen in der logischen Zeit weiterhin stark mit dem Wissen aus Untersuchungen in der historischen Zeit relativiert werden muss.
Autor: Christoph Scheuplein

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 52 (2008) Heft 2/3, S. 182-184