Timo Litzenberger: Cluster und die New Economic Geography, Theoretische Konzepte, empirische Tests und Konsequenzen für Regionalpolitik in Deutschland. Frankfurt am Main u.a. 2007 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 5: Volks- und Betriebswirtschaft, Band 3228). 365 S.

Für manchen ist die Neue Ökonomische Geographie (NÖG) nichts weiter als alter Wein in neuen Schläuchen; bestenfalls ein weiterer Ausdruck des "ökonomischen Imperialismus", der das modelltheoretische Instrumentarium allen Untersuchungsgegenständen der Welt aufzwingt. Für viele andere ist die NÖG hingegen eine Quelle wichtiger neuer Erkenntnisse, katalysiert durch ein bemerkenswertes Wiedererwachen des Interesses von Ökonomen an räumlichen Fragestellungen.

War die Regionalökonomik als Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre zwar auch vor 1991 nicht abgestorben, so führte sie doch im Vergleich zu anderen Feldern ein Schattendasein. Dies hat sich seit dem Erscheinen von Krugmans "Geography and Trade" grundlegend geändert. Seit einigen Jahren ist zudem international sichtbar, dass die Disziplinen Regionalökonomik und der Wirtschaftsgeographie in immer stärkeren Dialog treten und ihre Grenzen an einigen Stellen praktisch nicht mehr existieren. Dass dieser begrüßenswerte Prozess nun auch in Deutschland an Fahrt gewinnt, wird durch die vorliegende Dissertation von Timo Litzenberger dokumentiert, der nach einem volkswirtschaftlichen Studium am Wirtschafts- und Sozialgeographischen Institut der Universität zu Köln promoviert wurde. Seine Arbeit zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie echte Erkenntnisfortschritte erzielt werden können, wenn man verschiedene disziplinäre Traditionen und Methoden miteinander kombiniert. Ausgangspunkt der Analyse ist die Tatsache, dass die NÖG aufgrund ihrer komplexen, nichtlinearen Struktur einem strukturellen empirischen Test praktisch nicht zugänglich ist. Allgemein handelt es sich bei der NÖG um ein strikt mikroökonomisch fundiertes allgemeines Gleichgewichtsmodell, in dem ein Widerstreit von agglomerativen und dispersiven ökonomischen Kräften beschrieben wird. Deren relative Stärke und mithin die implizierte räumliche Gleichgewichtsstruktur hängen von diversen exogenen Parametern ab (wie etwa der Höhe der Transportkosten oder der Substitutionselastizität zwischen Produktvarietäten), die in der Realität nicht ohne weiteres beobachtbar sind. Zwar gibt es Versuche, diese strukturellen Parameter ökonometrisch aus beobachtbarem Marktverhalten zu rekonstruieren. Diese Methode hat aber ihre Grenzen. Der zentrale Beitrag von Litzenberger besteht in der Konzeption und Durchführung eines alternativen Ansatzes zur Bestimmung eben dieser Parameter, basierend auf einer nach Branchen differenzierten Primärerhebung durch Experteninterviews. Mit ihnen kann für jede Branche die räumliche Struktur bestimmt werden, die sich nach drei NÖG-Modellen in einem Zwei-Regionen-Kontext einstellen würde (KRUGMAN 1991; HELPMAN 1998; PUGA 1999). Die theoretischen Prognosen, ob eine Branche gleichmäßig im Raum verteilt oder partiell bzw. vollständig in einer Region konzentriert ist, werden dann mit dem tatsächlichen räumlichen Konzentrationsgrad in Deutschland verglichen. Hierbei zeigt sich, dass die theoretischen Modelle (insbesondere jenes von Puga) in der Tat bei jenen Branchen eine Agglomerationstendenz vorhersagen, die auch in der Realität die stärkste Konzentration aufweisen. So gelingt es Litzenberger, auf fundierte und methodisch neuartige Weise die Relevanz der NÖG durch eine direkte empirische Methode zu unterstreichen.
DieArbeit beginnt in ihren ersten drei Kapiteln mit einem kenntnisreichen Überblick über die NÖG-Literatur. DerWunsch ist klar erkennbar, hier eine Kategorisierung aller bisher unternommenen Modellierungsversuche zu bieten. Angesichts der Fülle mittlerweile entstandener Beiträge bleibt die gebotene Zusammenstellung (77) jedoch notwendigerweise unvollständig und vor allem verzerrt. Einigen Tendenzen wird ein sehr gewichtiger Beitrag zugemessen, andere kommen hingegen zu kurz. So diskutiert Litzenberger nur sehr am Rande, wodurch der Übergang von lediglich numerisch lösbaren hin zu komplett analytisch zugänglichen Modellen möglich geworden ist.1 Dieser Übergang ist vor allem deswegen wichtig, weil analytisch lösbare Modelle eine sicherere Basis für Wohlfahrtsanalysen bieten, die für die Ableitung von Politikimplikationen innerhalb der NÖG zentral sind. Jedoch wird diese Entwicklung nur mit sehr kurzen und teilweise unzutreffenden Bemerkungen bedacht (Abschnitt 2.7).2 Allgemeiner haben die einführenden Kapitel mit der Schwierigkeit zu kämpfen, präzise zu definieren, was die NÖG eigentlich genau ausmacht. Gerade die kanonisierenden Abschnitte 2.2.-2.5. legen die Vermutung nahe, dass für Litzenberger nur das zur NÖG zu zählen ist, was auf dem Dixit-Stiglitz-Modell der monopolistischen Konkurrenz in Verbindung mit Eisberg-Transportkosten aufbaut. Dieser engen Definition kann der Rezensent nicht zustimmen. Es handelt sich dabei um artifizielle, vereinfachende Annahmen, die zunächst notwendig erschienen, um dem Problem der Modellierung steigender Skalenerträge Herr zu werden. Es existieren mittlerweile aber Alternativen, wie etwa der "partialanalytische" Ansatz von OTTAVIANO et al. (2002), der zu ähnlichen Ergebnissen wie das Krugman-Modell führt, aber auf plausibleren industrieökonomischen Fundamenten beruht. Offen bleibt zudem die Frage, was die NÖG von anderen, ebenfalls strikt mikroökonomisch fundierten Agglomerationsmodellen ("labour pooling", "knowledge spillovers") unterscheidet. Bei aller Kritik im Einzelnen vermag der einleitende Teil sein eigentliches Ziel aber überzeugend zu erfüllen, nämlich die drei speziellen NÖG-Modelle von Krugman, Helpman und Puga, die dann später empirisch simuliert werden, vorzustellen und einzuordnen.
Das vierte Kapitel bietet den Einstieg in den empirischen Teil der Arbeit. Hauptsächliches Ziel ist es, geeignete Branchen für die weitere Analyse auszuwählen, für die die aufwendigen Interviews durchgeführt werden sollen. Diese Auswahl orientiert sich an nachvollziehbaren  Kriterien: Unter anderem müssen verschiedene Konzentrationsgrade vorkommen, die Industriestandorte dürfen nicht zu stark von natürlichen Standortbedingungen ("first nature") abhängen.Als Beiprodukt fällt ein deskriptiver Überblick zur Branchenkonzentration in Deutschland ab, der für sich genommen bereits lesenswert ist. Im Detail kann indes wiederum Kritik geäußert werden. So wird als Konzentrationsmaß lediglich der "räumliche GINIKoeffizient" verwendet. Dieses Maß wird in der Literatur wegen seiner Einfachheit zwar häufig angewandt (vgl. z.B. SÜDEKUM 2006), ist aber mit einigen Problemen behaftet. Der von Ellison/Glaeser hervorgehobene Aspekt, dass mit dem GINI-Koeffizient nicht zwischen Branchenkonzentration und Konzentration innerhalb einzelner Firmen unterschieden werden kann, wird von Litzenberger diskutiert und als weniger wichtig eingestuft. Man fragt sich aber, wieso auf die Anwendung methodisch weiter entwickelter Konzepte, wie zum Beispiel das Entropie-Maß von BRÜLHART/TRAEGER (2005), verzichtet wurde. Am Ende steht aber inAbschnitt 4.6. eine gut begründeteAuswahl von zehn Branchen. Für diese Kandidaten wird dann im Abschnitt 4.7. noch eine gelungene Darstellung der Clusterbildung in Deutschland mittels einer eigenständig entwickelten Maßzahl geboten, die zu sehr anschaulichen Ergebnissen führt (etwa ein vermutlich von den Kuckucksuhren getriebenes "Uhrencluster" im Schwarzwald).
Der eigentliche substanzielle Beitrag findet sich schließlich in den Kapiteln 5-7. Zunächst werden Aufbau und Durchführung der Befragungsstudie vorgestellt. Dieser Teil ist die methodische Domäne der Wirtschaftsgeographen. Doch auch der in diesen Fragen eher laienhafte Ökonom erkennt schnell, dass es sich um eine außerordentlich sorgfältige Arbeit handelt. Die Darstellung der Umfrageauswertung erbringt neben einem faszinierend zu lesenden Sammelsurium qualitativer Fakten - welche Art von Standortfaktoren für welche Industrie eine hohe Relevanz haben - auch eine übersichtliche Darstellung der geschätzten branchenspezifischen Parameterwerte. Hierbei fällt insbesondere auf, dass die Preiselastizität der Nachfrage (der Parameter s) in der Einschätzung der Experten deutlich niedriger liegt als in den meisten bisherigen quantitativen Studien zur NÖG oder zur neuen Außenhandelstheorie. Das arithmetische Mittel für alle Branchen liegt bei s = 2,4, die Spanne reicht von 1 bis knapp über 4 (vgl. Seite 233, Tab. 19,).3 Übersetzt in die Sprache der NÖG würde dies auf nur schlechte Substituierbarkeit der Varietäten, immense Preissetzungsspielräume für die Produzenten und damit auf sehr starke Agglomerationskräfte hindeuten.
Aufbauend auf den so ermittelten Parameterwerten errechnet Litzenberger für jedes der drei NÖG-Modelle und für jede Branche die charakteristischen kritischen Transportkostenwerte, ab denen sich Agglomeration in einem Zwei-Regionen-Modell einstellen würde. Hierdurch simuliert er die theoretische Vorhersage hinsichtlich der jeweils zu erwartenden räumlichen Gleichgewichtsstruktur, aber es offenbart sich ein Problem: Bei strikter Anwendung der empirisch ermittelten Werte kommen die Modellsimulationen zu unplausiblen Ergebnissen. Die Anwendung des Krugman-Modells ergäbe etwa, dass man in allen betrachteten Industrien vollständige Agglomeration beobachten müsste. Daher bedient sich der Autor eines (nicht ganz unproblematischen) Kunstgriffs. Er führt eine Normierung durch, indem er alle Parameterwerte so verändert, dass die jeweiligen Branchenreihenfolgen erhalten bleiben, aber die Größenordnungen insgesamt in den "interessanten" Bereich verschoben werden, in dem die Modelle für verschiedene Industrien auch unterschiedliche räumliche Strukturen vorhersagen können. Basierend auf diesen normierten Parametern findet Litzenberger, dass vor allem das Modell von Puga Agglomeration in den Branchen prognostiziert, die auch in der Realität am stärksten konzentriert sind. Insofern findet er eine empirische Bestätigung für die NÖG.
Mehrere kritische Anmerkungen erscheinen angebracht. Der Simulationsstudie gelingt es zwar nachzuweisen, dass die NÖG den relativen Agglomerationsgrad verschiedener Industrien gut zu replizieren vermag, der absolute Agglomerationsgrad wird aber nur schlecht wiedergegeben. Wenn die von den Experten genannten Parameterwerte tatsächlich realistisch sind, dann müssten wir gemäß der NÖG wesentlich stärkere Agglomerationseffekte erwarten. Warum das nicht der Fall ist, kann durch die Arbeit nicht geklärt werden. Des Weiteren werden lediglich die theoretischen Prognosen in einem Zwei-Regionen-Modell abgeleitet. Für einen plausiblen Soll-Ist Vergleich wäre es interessant, ein NÖG-Modell mit mehr als zwei Regionen zu simulieren, wobei die Schwierigkeiten in der Handhabung solcher Modelle in Rechnung gestellt werden müssen. Schließlich bleiben die Politikimplikationen der Arbeit etwas vage. Mit den ermittelten empirischen Daten hätten auch (analytisch lösbare) NÖG-Modelle simuliert werden können, für die nicht nur die kritischen Transportkostenwerte für die Marktallokation, sondern auch die entsprechenden Werte für die "optimale" (die Wohlfahrt maximierende) Planerallokation hergeleitet werden können. Hierdurch hätte für jede Industrie analysiert werden können, ob eine ineffiziente "Über-Agglomeration" zu konstatieren ist, die prinzipiell als allokative Begründung für eine pro-dispersive Regionalpolitik dienen kann.
Zusammenfassend sollte aber trotz der stellenweise vorgetragenen Kritik festgehalten werden, dass es sich bei der Dissertation von Timo Litzenberger um eine ausgezeichnete Arbeit handelt, die kreativ Forschungsmethoden aus verwandten Disziplinen miteinander verknüpft und dadurch imstande ist, einen echten Beitrag zur internationalen wissenschaftlichen Literatur zu leisten.
Anmerkungen
1 Für andere Autoren wie etwa BALDWIN et al. (2003) markiert dieser im Jahr 2001 geleistete Schritt das Ende der "ersten" und den Beginn der "zweiten Generation" der NÖG.
2 Auf Seite 51 heißt es: "Weil die Agglomerationsvorteile und -nachteile in den Nutzenfunktionen der Wirtschaftssubjekte internalisiert sind, kann für die aus den Modellen resultierenden räumlichen Verteilungen kein Marktversagen unterstellt werden. Auftretende externe Effekte sind allein pekuniärer Art. Unter dem Gesichtspunkt der Allokationseffizienz ist deshalb innerhalb der Modellwelt der NÖG nichts gegen eine räumliche Ungleichheit [...] einzuwenden". Diese Aussage ist deswegen unzutreffend, weil in der NÖG mit Modellen der unvollständigen Konkurrenz gearbeitet wird. In diesen Modellen besteht aber gerade kein materieller Unterschied zwischen "technologischen" und "pekuniären" externen Effekten (vgl. LAFFONT 1987). Aufgrund Letzterer kann es durchaus zu einer Diskrepanz zwischen gleichgewichtigen und "optimalen" räumlichen Strukturen kommen, die potenziell dazu geeignet ist, einen regionalpolitischen Eingriff allokativ zu rechtfertigen.
3 Viele Kalibrationsstudien arbeiten für s mit höheren numerischen Werten, sie liegen deutlich über 5, teilweise sogar über 10 (vgl. BRÖCKER 2006).
Literatur
BALDWIN, R.E./FORSLID, R./MARTIN, P./OTTAVIANO, G.I.P./ROBERT-NICOUD, F. (2003): Economic geography and public policy. Princeton, NJ.
BRÖCKER, J. (2006): Spatial effects of transport infrastructure - an update. Kiel.
BRÜLHART, M./TRÄGER, R. (2005): An account of geographic concentration patterns in Europe. In: Regional Science and Urban Economics, 35, 597-624.
HELPMAN, E. (1998): The size of regions. In: Pines, D./Sadka, E./Zilcha, I. (Eds.): Topics in public economics. Theoretical and empirical analysis. Cambridge, 33-54.
KRUGMAN, P. (1991): Increasing returns and economic geography. In: Journal of Political Economy, 99, 483-499.
LAFFONT, J.J., (1987): Externalities. In: Eatwell, J./Milgate, M./Newman, P. (Eds.): The new palgrave. London.
OTTAVIANO, G.I.P/TABUCHI AND, T./THISSE, J.-F. (2002): Agglomeration and trade revisited. In: International Economic Review, 43, 409-435.
PUGA, D. (1999): The rise and fall of regional inequalities. In: European Economic Review, 43, 303-334.
SÜDEKUM, J. (2006): Concentration and specialization trend in Germany since re-unification. In: Regional Studies, 40, 861-873.
Autor: Jens Südekum

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 52 (2008) Heft 2/3, S. 184-187