David Harvey: Spaces of neoliberalization: towards a theory of uneven geographical development. Wiesbaden 2005 (Hettner-Lectures Volume 8). 132 S.

William Shakespeare lässt in seinem berühmten Drama Der Kaufmann von Venedig den Geschäftsmann Antonio zu dem reichen jüdischen Geldverleiher Shylock sagen, dass zinstragende Kredite lediglich an Fremde zu vergeben sind, denn nur von Fremden kann man die Schuld rücksichtslos zurückfordern. Shakespeare symbolisiert diese besondere Rücksichtslosigkeit in ökonomischen Reziprozitätsprozessen zwischen Fremden dadurch, dass Antonio sein eigenes Diktum zu spüren bekommt. Antonio soll in dem Schauspiel für einen Kredit, den er nicht begleichen kann, mit einem Pfund seines eigenen Fleisches haften.

Der amerikanische Geograph David Harvey nimmt sich dieses klassischen Themas der Rücksichtslosigkeit in ökonomischen Austauschhandlungen zwischen einander Fremden in drei Essays an, die in dem vorliegenden Band veröffentlicht sind. Zwei der Aufsätze bilden überarbeitete Versionen von Vorträgen, die Harvey als Hettner-Lecture am 28. Juni und 29. Juni 2004 in Heidelberg gehalten hat. Die Vorträge ergänzt ein kürzerer Beitrag zur Problematik des Raumes. Die gemeinsame inhaltliche Klammer der Texte bildet eine Analyse der Hinwendung vom Liberalismus zum Neoliberalismus auf verschiedenen Maßstabsebenen seit Ende der 1970er Jahre. Der Neoliberalismus ist nach Harvey verdächtig, sich durch eine besondere Rücksichtslosigkeit in der Einforderung von Schuld auszuzeichnen, genau wie dies Shylock gegenüber Antonio in Shakespeares´ Schauspiel praktiziert. Die neoliberale Weltwirtschaftsordnung nimmt gemäß dem New Yorker Geographen keinerlei Rücksicht auf soziale Konsequenzen in den jeweiligen Schuldnerstaaten, sondern ist auf eine Durchsetzung der Ansprüche mithilfe komplexer internationaler politischer Verflechtungen aus. Harvey sieht im Neoliberalismus eine neue ökonomische Orthodoxie, die beginnt, die Politik zu regulieren. Als Ergebnis steht ein weltweites Klima des Individualismus, der Freiheit und des Bürokratieabbaus im Dienste des Kapitals. Diese Wirtschaftsethik kulminiert in dem bekannten Zitat einer der Symbolfiguren des Neoliberalismus, der früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher, dass es keine Gesellschaft, sondern lediglich Individuen gäbe.
In der ersten Vorlesung mit dem Titel Neo-liberalism and the restoration of class power analysiert Harvey die Genese des Neoliberalismus aus dem Geist der Individualität. Er bereitet in diesem Essay sein Hauptanliegen, die Erklärung der ungleichen globalen geographischen Entwicklung, die er erst im zweiten Essay ausführt, argumentativ vor. Zunächst analysiert er die Mechanismen und Strategien des Neoliberalismus. Harveys Kernargument lautet, dass der Neoliberalismus als ein dezentralisierter, instabiler und evolutionärer Prozess aufzufassen sei, den eine ungleiche geographische Entwicklung und ein starker Druck zwischen verschiedensten dynamischen Zentren politisch-ökonomischer Macht kennzeichne. Der Neoliberalismus operiere dabei immer, und das ist entscheidend, redistributiv und nicht generativ. Redistribution vollzieht sich auf den verschiedenen Maßstabsebenen innerhalb der Staaten, als Umverteilung von den unteren zu den oberen Klassen und zwischen den Staaten selbst, z. B. als Rohstoffexporte zwischen den Entwicklungsländern und den USA. Harveys besondere Leistung in diesem Essay ist es, die Konsequenzen eines entfesselten Neoliberalismus für eine jegliche Sozietät eindrucksvoll darzulegen. Seine Analyse berührt die besondere Verwundbarkeit der amerikanischen Außenpolitik in ihrem Kampf für Freiheit und gegen den Kommunismus genauso, wie das Verschwinden von erschwinglichem Wohnraum in der Nähe der Zentren von Großstädten weltweit. Die US-amerikanische Außenpolitik gerät in ihrer Fixierung auf die Ausweitung globaler Kapitalakkumulationsmöglichkeiten zusehends in die Abhängigkeit von Diktaturen und diktatorischen Regimes in den Entwicklungsländern, die sich mitunter plötzlich gegen die ureigenen US-amerikanischen Interessen stellen können. Harvey exemplifiziert dies scharfsinnig am Beispiel des Irak. Redistributionsprozesse in der neoliberalen Staatswirtschaft führt, so ein weiteres Beispiel von Harvey, zu Kapitalabflüssen in den Immobilienmarkt, was sich in Form einer ungehemmten Gentrifizierung innenstadtnahen Wohnraums bemerkbar macht. Es kommt nachfolgend zu einer Verschärfung der Armutslagen und Zentralisierung der Armut in den Großstädten selbst. Was bleibt ist die wichtige Erkenntnis, dass die Freiheit des Kapitals im Neoliberalismus tatsächlich mehr Kontrolle und Unfreiheit produziert, da diese Freiheit immer nur die Freiheit der oberen Klassen oder reichsten Staaten ist. Diese Freiheit kann naturgemäß nur mithilfe von Restriktionen bestehen bleiben. Die Freiheit des Neoliberalismus ist für Harvey ein Feind der gesellschaftlichen Solidarität.
Der zweite Beitrag Notes towards a theory of uneven geographical development bildet den Schlüsseltext des Sammelbandes. Harvey versucht in diesem Essay, eine geographische Theorie ungleicher Entwicklung zu konstruieren. Dies sieht er in einem dialektischen Prozess verortet, der das Abstrakte und das Konkrete, das Universelle und das Partikulare verbindet. Zunächst rekapituliert er die existierenden geographischen Ansätze zur Erklärung von Ungleichheit, um die Notwendigkeit eines eigenen Zugangs herauszustellen. Verschiedenste Theorie- und Denkrichtungen haben sich bis dato mit der ungleichen Entwicklung auseinandergesetzt und diese von distinkten Richtungen her zu erklären versucht. Nach Maßgabe von Harvey können weder der Diffusionismus, die konstruktivistische Theorie, environmentalistische Erklärungen noch geopolitische Interpretationen geographische Ungleichheit befriedigend erläutern. Die bestehende theoretische Vielfalt läuft darüber hinaus Gefahr, das wirkliche Problem in einer eklektischen und unzusammenhängenden Gemengelage von unterschiedlichsten Ansätzen zu verschleiern und nicht zu lösen. Harvey fokussiert in seinem Ansatz stattdessen vier Punkte, die nach seiner Maßgabe essentiell zur Erklärung der Ungleichheit seien. Nach Harvey sind die materielle Eingebundenheit der Kapitalakkumulation in die soziale Welt, der Mechanismus von Akkumulation durch Enteignung, der gesetzesgleiche Charakter der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit sowie die politischen und sozialen Klassenkämpfe auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen wesentlich für eine Ausarbeitung einer Theorie der ungleichen geographischen Entwicklung. Es stellt sich nach Lektüre des Textes allerdings die Frage, ob diese angedachte Ausarbeitung gelingt oder ob Harvey nicht ebenfalls lediglich einen Beitrag zu dem von ihm identifizierten "eclectic and incoherent mish-mash of ideas" (S. 58) leistet. Denn Harvey zielt mit seinen Überlegungen nicht auf eine Metatheorie, sondern nimmt nur einen Teilaspekt des ganzen Phänomens der Ungleichheit in den Blick. Er entwirft eine Theorie, die vor allem erklären soll, welche Rolle die ungleiche globale geographische Entwicklung für die Kapitalakkumulation spielt. Mit dieser Begrenzung folgt Harvey zwar zunächst dem Argument des ungarischen Ökonomen Karl Polanyi, der Kapital als Abstraktion und getrennt von der breiteren ökonomischen Logik, die sich von sozialen und ökologischen Prozessen ableiten würde, betrachtete. Harvey setzt in seinem eigenen Entwurf hingegen letztlich die globale ungleiche Kapitalakkumulation mit ungleicher globaler Entwicklung synonym, wenn er Ungleichheit ausschließlich als ungleiche Kapitalakkumulationsmöglichkeiten zu erklären versucht.
In dem abschließenden Essay des Bandes, in Anlehnung an Raymond Williams Space as a key word betitelt, erklärt Harvey, wie sich sein Denken in Bezug auf den vielschichtigen Begriff des Raumes entwickelt hat. Für Harvey verbietet die Komplexität des Vorstellungsinhalts von Raum die Beanspruchung einer absoluten Wahrheit. Er versucht stattdessen, eine persönliche Annäherung an das Thema zu leisten. Der Text gewährt einen faszinierenden Einblick in das Harveysche Denken bezüglich des Raumes. Als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt er den bestehenden Dualismus zwischen einem Verständnis von Raum als essentialistisches Element in einem materialistischen Projekt, um fassbare Geographien zu eruieren und einem Fokussieren auf räumliche Metaphern innerhalb sozialer, literarischer und kultureller Theorien. Die zweite Position benutzt nach Dafürhalten von Harvey diese Metaphern, um sog. "Metaerzählungen" wie die marxistische Theorie zu unterbrechen. Allerdings bildet die Rede von räumlichen Me taphern, wie sie allgemein den spatial turn charakterisiert, keinen ausreichenden Grund, um die Erklärungsversuche der Metatheorien (und man könnte hinzufügen: besonders des Marxismus) aufzugeben. Für Harvey zeigt sich die Bedeutung des Raumes gerade in seiner Materialität. Rechte, symbolische Handlungen etc. bedeuten nichts, wenn eine Gruppe nicht die Macht besitzt, sie im absoluten Raum und in der Zeit zu konkretisieren und durchzusetzen. Space as a key word ist eine hervorragende Subsumtion marxistischen Denkens über den Raum und gleichzeitig ein Plädoyer für eine weitergehende Konzeptionalisierung des Begriffs in der Geographie. Harveys Essay kann als eine profunde Grundlage für ein solches Arbeiten gelesen werden.
Harvey analysiert in seinen Hettner-Lectures den Neoliberalismus in dessen geographierelevanten Facetten. Am Ende der Lektüre seiner Vorträge steht das beunruhigende Postulat, dass der Neoliberalismus mit einer drohenden Unregierbar-keit aufgrund disparater individueller Interessen zu kämpfen hat. Gesellschaft und gesellschaftliche Solidarität als übergeordnete ordnende Phänomene sind nach Maßgabe der neoliberalen Abkömmlinge nicht existent, daher besteht die Gefahr des Zusammenbruchs der Ordnung aufgrund der divergierenden Interessen, die ebenfalls den Markt tangieren. Nach Harveys Betrachtung reagiert der Neokonservativismus auf genau diese Herausforderung mit einer massiven Militarisierung zur Aufrechterhaltung neoliberaler Interessen in einem Konglomerat individueller Strategien. Harvey gelingt es in seinen Essays, die Konsequenzen dieser bedrohlichen Entwicklung scharfsinnig aufzuzeigen und ihre Bedeutung für eine kritische Humangeographie herauszustellen.
Autor: Peter Dirksmeier

Quelle: geographische revue, 10. Jahrgang, 2008, Heft 1, S. 77-80