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Kategorie: Rezensionen

Malcom Sylvers: Die USA - Anatomie einer Weltmacht. Zwischen Hegemonie und Krise. Köln 2002. 333 S.

Verf. tritt an, die "Konturen der US-Politik und der heutigen Situation eines sich zwischen Verfall, ›Renaissance‹ und Hegemonie befindlichen Landes zu bestimmen" (9). Er liefert eine Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den USA und zeigt, was hinter der oft verdinglichten Vorstellung des Staates im Allgemeinen und der USA im Besonderen steht. Was hat die - von kurzfristigen Akkumulationsstrategien geprägte - amerikanische Dynamik mit der spezifischen Gesellschaftsstruktur der USA zu tun? Wie steht es um die Zukunft dieses Modells?

Gerade die Offenheit der amerikanischen Gesellschaft hat maßgeblich die Herausbildung des Neoliberalismus in den USA begünstigt. Ihr Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft und der stetige Zufluss billiger ungelernter Arbeit trugen zur "Umverteilung des Einkommens von den ungelernten Arbeitern zu den hochspezialisierten Arbeitskräften und den Unternehmern" bei (142). Die Attraktivität der US-Gesellschaft impliziert eine permanente Schwächung der ausgebeuteten Klassen und trägt zur Akzeptanz extremer Ungleichheit bei. In ihrer kulturellen Tradition hatten Individuum und individuelle Verantwortung schon immer einen hohen Stellenwert (167f), zudem ist sie in unterschiedliche ›Communities‹ segmentiert. Trotz erheblicher sozialer Unterschiede verfügt dieses Modell über eine auch für Anleger attraktive Stabilität. Die USA können sich ein enormes Außenhandelsdefizit erlauben, weil die Aussicht auf Gewinne und ihre Anziehungskraft für Geldanleger ungebrochen sind; in der Folge fließen große Kapitalströme (66f).
Implizit wird deutlich, dass in der Konkurrenz der Staaten auch unterschiedliche Ausbeutungsstrategien miteinander konkurrieren. In welchem Verhältnis diese zueinander stehen, bleibt allerdings unklar. Auch die strukturellen Veränderungen, die neue Kräfteverhältnisse hervorgebracht haben und von diesen begünstigt wurden, werden kaum untersucht. Dadurch bleibt die Studie in einer akteurszentrierten Klassenanalyse gefangen. Ebenso eingeengt ist der Blick auf die internationalen Institutionen, die nur als Instrumente der USA thematisiert werden: "Die WTO wird genutzt, um Japan und Europa zu ›öffnen‹ und weitgehende Handlungsfreiheit zur unilateralen Durchsetzung der nationalen Interessen zu wahren." (245) Die Frage, ob sich in Institutionen wie der WTO Kräfteverhältnisse verdichten, die nicht auf die USA zu reduzieren sind, kann so nicht gestellt werden. Empirisch betrachtet sind aber die westeuropäischen Staaten und die EU keineswegs Opfer einer us-inszenierten Marktöffnung, sondern gehören zu den emsigsten Akteuren in der WTO.
Das Buch bleibt deskriptiv, theoretische Schlussfolgerungen werden kaum gezogen. Zwar wird die Transnationalisierung der Klassenstruktur angedeutet, ihre Konsequenzen aber bleiben unklar: "Manche Leute mögen von einer ›transnationalen Bourgeoisie‹ sprechen, für die anderen würde es sich einfach um eine Koordination der verschiedenen führenden Gruppen der zentralen Länder handeln unter der flexibleren, wenn auch allmählich schwächer werdenden Führung der Vereinigten Staaten." (275) Damit wird eine entscheidende Frage angerissen: Kann Hegemonie überhaupt noch als Hegemonie eines führenden Nationalstaates begriffen werden, kann die Analyse von Hegemonie sich noch auf diesen beschränken? Doch der Hinweis, die aktuelle Situation laufe eher auf eine "Trigonomie" als auf Hegemonie eines einzelnen Landes hinaus (ebd.), hilft hier nicht weiter. Vielmehr wäre zu untersuchen, inwieweit veränderte globalisierte Klassenstrukturen zur Entstehung neuer Terrains geführt haben, auf denen um Hegemonie gerungen wird.
Autor: Jens Wissel

Quelle: Das Argument, 45. Jahrgang, 2003, S. 484-485