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Kategorie: Rezensionen

Martin Kronauer: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt/M, New York 2002. 252 S.

Heinz Steinert u. Arno Pilgram (Hg.): Welfare Policy from Below. Struggles Against Social Exclusion in Europe. Aldershot 2003. 304 S.

Ausgehend von der französischen Diskussion über die "exclusion sociale" und der us-amerikanischen "underclass"-Debatte rekonstruiert Kronauer die in den verschiedenen Theorietraditionen enthaltenen Vorstellungen gesellschaftlicher Zugehörigkeit und entwickelt daraus einen mehrfach bestimmten Begriff sozialer Ausgrenzung.

Erstens versteht er soziale Ausgrenzung im Anschluss an die durkheimsche Idee organischer Solidarität als das Durchtrennen von und Herausfallen aus gesellschaftlichen Interdependenzbeziehungen. Als die entscheidenden Instanzen wechselseitiger (wenn auch asymmetrischer) Abhängigkeits-beziehungen identifiziert Verf. den Arbeitsmarkt und die sozialen Nahbeziehungen. Subjektiv wird der Ausschluss vom Arbeitsmarkt durch den (dauerhaften) Wegfall des Erwerbsstatus als Verlust des eigenen gesellschaftlich anerkannten Ortes erfahren. Der Ausschluss aus sozialen Nahbeziehungen durch die Auflösung familiärer, freundschaftlicher und nachbarschaftlicher Bindungen bedeutet mit sozialer Isolation - ob in Form von Vereinzelung oder sozialer Entmischung - und mit dem Verlust von netzwerkgebundenen Ressourcen zur Überwindung der eigenen Lage konfrontiert zu sein. Das Verhältnis zwischen diesen Momenten gesellschaftlicher Interdependenz ist nicht monokausal. Auch soziale Isolation kann zu Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt führen. Trotzdem kommt der Arbeitslosigkeit eine besondere Rolle bei der Entstehung sozialer Ausgrenzung zu. "Ausgrenzung am Arbeitsmarkt ist [...] eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für Exklusion." (44) Zweitens versteht Verf. soziale Ausgrenzung in Anknüpfung an Marshalls Staatsbürgerschaftsbegriff als Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe, die sich an historisch wandelbaren, kulturell verankerten und institutionell vermittelten Maßstäben bemisst. Am Lebensstandard und den Lebenschancen einer Gesellschaft nicht angemessen teilhaben zu können, bedeutet, materiell nicht mithalten zu können, von politischen Institutionen und Rechten ausgeschlossen und von kulturell geteilten Lebenszielen abgeschnitten zu sein. Erwerbsarbeit und heterogene Sozialbeziehungen können als Voraussetzungen für angemessene Teilhabe gelten; dennoch lassen sich Interdependenz und Teilhabe nicht aufeinander reduzieren. "Denn gesellschaftliche Teilhabe bezieht sich auf Qualitäten eines verallgemeinerten Bürgerstatus [...], die durch die Einbindung in Erwerbsarbeit und soziale Netze allein noch nicht sichergestellt sein müssen" (46), wie das Beispiel der working poor zeigt, deren Löhne trotz ihrer Einbindung in den Arbeitsmarkt nicht für die materielle Teilhabe oberhalb der Armutsgrenze ausreichen.
Im Gegensatz etwa zum Marginalisierungsbegriff impliziert die im Begriff sozialer Ausgrenzung enthaltene Grenzmetapher einen qualitativen Bruch zwischen "Drinnen" und "Draußen". Daraus entstehen zwei begriffliche Probleme, die Verf. auf die Ambivalenz der Sache selbst zurückführt: Wie lässt sich ein "Außerhalb" der Gesellschaft soziologisch überhaupt denken (wenn doch schon Durkheim um die Unmöglichkeit dieses Unterfangens wusste)? Und: Worin besteht die Qualität des Bruches? In kritischer Abgrenzung zu einer dichotomischen Lesart versteht Verf. soziale Ausgrenzung als ein die Grenze zwischen "Drinnen" und "Draußen" überschreitendes gesellschaftliches Verhältnis, das kein absolutes "Draußen", sondern ein an die Ungleichheitsstruktur der Gesellschaft angekoppeltes und gleichzeitig abgesetztes "Draußen vom Drinnen" (204) erzeugt. In der Dimension materieller Teilhabe bspw. konstituiert sich eine interne Grenze an dem "Schwellenwert, ausgedrückt in Geldgrößen, bei dem der Rückgang von Ressourcen mit einem überproportionalen Verlust der Fähigkeit einhergeht, der allgemein akzeptierten und geforderten Lebensweise zu entsprechen" (143f). Diese Armutsgrenze mag empirisch nur durch "die avanciertesten Armutsuntersuchungen" (176) zu bestimmen sein; sie sei aber die Größe, an der Armut praktisch beginnt. Der beliebte, aber widersinnige Ausweg, auf "die Angabe eines richtungsweisenden Fluchtpunkts" (140) zu verzichten, konzipiere soziale Ausgrenzung als Prozess ohne Resultat. Als "einsozialisierte" (200) und massenmedial aktualisierte kulturelle Ziele können jene kritischen Grenzen nicht einfach subjektiv relativiert werden. Ausgeschlossene kämpfen deshalb oft vergeblich um die Verwirklichung ihrer Ziele, statt diese realistisch ihren beschränkten Mitteln anzupassen.
Armut und Ausgrenzung waren stets charakteristische Elemente des Kapitalismus. Die neue Qualität der Individuen und Kollektiv bedrohenden "Gefährdung des Sozialen" besteht daher laut Verf. weniger in der Wiederkehr von Massenarbeitslosigkeit und Niedriglohnarbeit, sondern darin, dass sich diese vor dem historischen Hintergrund der außergewöhnlichen arbeitsmarktlichen Einbindung und sozialstaatlichen Absicherung der Arbeiterklasse im Fordismus ereignet. Obwohl diese enge Verbindung von Interdependenz und Teilhabe nun massiv in Frage gestellt wird, sei die alte Konstellation in Form eines "durch soziale Institutionen und historische Erfahrungen gestützten, gesellschaftlichen Bewusstseins" (36), aus dem sich auch die kritische Variante des Ausgrenzungsbegriffs speisen würde, immer noch wirksam. In der vom Verf. unausgesprochenen Konsequenz hieße dies, damit zu rechnen, dass sich das "soziale Bewusstsein" und ein darauf sich stützender Ausgrenzungsbegriff dann abnutzen, wenn die fordistischen Institutionen ab- bzw. umgebaut werden und neue Erfahrungen sozialer Ausgrenzung die alten des Dazugehörens überlagern. Ob mit der Schwächung der normativen Kraft der Vergangenheit auch das gesellschaftliche Verhältnis "sozialer Ausgrenzung" verschwinden wird, steht jedoch zu bezweifeln. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob der "hoch entwickelte Kapitalismus" nicht qua seiner immanenten Widersprüchlichkeit Inklusionsversprechen gibt und sich deshalb (uneingelöste) Inklusionsansprüche aus der Gegenwart heraus aktualisieren. Als die Arbeiterklasse im Vorfeld des Fordismus Teilhaberechte einforderte, bezog sie sich schließlich auch nicht auf ein bereits vergangenes "goldenes Zeitalter". - Abgesehen von der normativen Orientierung auf den Fordismus navigiert Kronauer geschickt um die Untiefen der Debatte herum und unterbreitet einen theoretisch stringenten und empirisch anspruchsvollen Exklusionsbegriff. Gerade weil er mit seinem Plädoyer für eine präzise und sensible Verwendung des Begriffs der Theoriediskussion eine neue Tiefe verleiht und damit einen unhintergehbaren Referenzpunkt setzt, wird erkennbar, wie weit jene noch von einem umfassenden Verständnis sozialer Ausgrenzung entfernt ist.
Steinert und Pilgram präsentieren zusammen mit 15 anderen Autoren die Ergebnisse ihres europäischen Forschungsprojekts, das in jeweils zwei Quartieren der Städte Barcelona, Bologna, Wien, Frankfurt/M, Leipzig, Groningen, Leeds und Stockholm insgesamt 3.291 Erzählungen über Episoden drohender oder faktischer Exklusion erhoben hat, um zu untersuchen, wie solche Situationen vermieden oder bewältigt werden. Soziale Exklusion wird dabei als gradueller, multidimensionaler, dynamisch-episodischer und umkämpfter Prozess der Vorenthaltung bzw. des Entzugs gesellschaftlicher Teilhabe konzipiert. Als "continuous and gradual" (5; Kurs. i. O.) ist Exklusion charakterisiert, weil, statt einen harten Bruch zwischen "Drinnen" und "Draußen" anzunehmen, soziale Ausschließung als reiner Prozessbegriff gefasst wird, in Annäherung an den (selten erreichten) Totalausschluss (durch Tod oder Exilierung). Als multidimensional gilt Exklusion, weil der Ausschluss in der einen Dimension durch Ressourcen in den anderen Dimensionen gemildert oder sogar kompensiert werden kann, während der "wrong move" (51) die Situation auch verschärfen kann. Als dynamisch-episodisch begreifen Verf. Exklusion, weil ihnen die Ausschlusssituation als umkehrbar und ihre Überwindung als Regelfall gilt. Analog zur "dynamischen" Armutsforschung sehen sie Exklusion als selten dauerhaft an und halten sie für eine (möglicherweise wiederkehrende) Episode. Als umkämpft konzipieren sie Exklusion schließlich deshalb, weil sie bei ihrer Forschung auf kompetente, eigensinnige und strategische Akteure gestoßen sind, die mit ihrer Situation aktiv umgehen. Die Bestimmung dessen, was gesellschaftliche Teilhabe heißen soll, bleibt allerdings dunkel. Soll der Ausschluss zunächst an kulturell anerkannten Teilhabestandards bemessen werden (5), heißt es später, dass es keine allgemein geteilten Ansprüche auf einheitliche Standards gäbe. "[R]ather there are qualitatively different assumptions [...] about what it means to participate in a satisfactory form." (256) Möglicherweise könnte die nicht explizierte Vorstellung, dass nicht alle Normen gesellschaftlicher Teilhabe universell gültig seien, sondern etwa Migranten oder Kriminelle regelmäßig abweichenden Standards unterworfen werden und sich diesen unterwerfen (9), diesen offenkundigen Widerspruch überbrücken. Fragt sich nur, warum dann nicht die Konsequenz gezogen wird, von Exklusion nur noch im Plural zu sprechen. Interessant ist der Versuch, unter Vermeidung der Grenzmetapher dennoch Standards abnehmender Teilhabe und Schritte in Richtung Vollausschluss z.B. für die Dimension des Arbeitsmarkts zu benennen (52): Von den "Schwierigkeiten" nach dem Verlust des Arbeitsplatzes über die dauerhafte Unfähigkeit, einen neuen Job zu finden, und dem Leiden unter schlechten Arbeitsbedingungen bei schlechter Bezahlung bis hin zur Unmöglichkeit, wegen familiärer Verpflichtungen Erwerbsarbeit anzunehmen, wird eine Stufenfolge konstruiert; nicht gezeigt wird allerdings, inwiefern es sich dabei um praktisch wirksame Standards handelt.
Die empirischen Ergebnisse fördern wenig Überraschendes zutage: Der Erwerbsarbeit wird bei Subsistenzproblemen der Vorzug gegenüber anderen Bewältigungsformen gegeben, auch wenn sich allmählich das Bewusstsein durchsetzen würde, dass der Arbeitsmarkt immer weniger einen angemessenen Lebensstandard ermögliche. Der Wohlfahrtsstaat unterstützt die Hilfesuchenden zwar, aber unterläuft ihre Erwartungen regelmäßig. Familiäre Unterstützungsnetze schließlich leisten sowohl in zeitlicher als auch in monetärer Hinsicht nur begrenzte Dienste, die wiederum an Gegenleistungen gebunden sein können. Dennoch wird die Familie häufig den entwürdigenden Verfahren des Wohlfahrtsstaats vorgezogen. Neben dauerhafter Armut, die häufig als Auslöser sozialen Ausschlusses dargestellt wird, finden Verf. viele Erfolgsgeschichten überwundener sozialer Ausgrenzung. Dazwischen gäbe es aber auch das Phänomen der "Neutralisierung" sozialer Ausgrenzung: "people take it for granted or have abandoned any higher ambitions" (9). Migranten z.B. würden ihren politisch-institutionellen Ausschluss häufig wie selbstverständlich akzeptieren. Während Kronauer in seiner Synopse empirischer Studien darauf besteht, dass die Ausgeschlossenen angesichts der "Übermacht der ›konformistischen‹ Ziele" (200) trotz inadäquater Mittel selten ihre Teilhabeansprüche reduzieren, stellt sich an Steinert u.a. zumindest die Frage, wie die Rede vom sozialen Ausschluss zu rechtfertigen sei, wenn die damit bezeichnete soziale Lage subjektiv bestritten wird, insbesondere, wenn es an anderer Stelle heißt: "Social exclusion may be understood as subjective awareness by an individual that he or she has been excluded" (123). - Vor allem die genannten theoretischen Auslassungen und Widersprüche sowie die knappen, wenig überzeugenden Ausführungen zur Forschungsmethodik hinterlassen Zweifel beim kritischen Leser. Trotz der genannten Mängel, die vermutlich zum Teil auf den kollektiven Charakter des Projektes zurückzuführen sind, beeindruckt das Buch durch seine thematische und geographische Breite.
Liest man beide Bücher gegeneinander, sticht das diametral entgegengesetzte Exklusionsverständnis ins Auge. Während Steinert u.a. unter Absehung der aus der Grenzmetapher sich ergebenden Implikationen die Pluralisierung und Partikularisierung von Teilhabemaßstäben nahe legen, besteht Kronauer darauf, die allgemein anerkannten und praktisch wirksamen "kritischen Grenzen" sozialer Teilhabe theoretisch zu rekonstruieren. Entsprechend unhandlich und ausufernd gerät ersteren ihr Exklusionsbegriff, den sie in fünf verschiedene Grade sozialen Ausschlusses ("severe", "advanced", "intermediate", "preliminary" und "alternative"; 73) unterteilen, während letzterer neben der "Zone der Integration" lediglich die beiden Zonen der "Gefährdung" und der "Ausgrenzung" kennt (50). Der von Steinert u.a. locker verwendete Exklusionsbegriff überschätzt das Phänomen daher quantitativ und unterschätzt es qualitativ. Bewältigungshandeln erscheint dann als Absetzbewegung von Normalität durch die einfache Aufgabe kultureller Ziele. Bei Kronauer stellt die Bewältigung sozialer Ausgrenzung den oft verzweifelten Versuch dar, überhaupt wieder "Normalität" herzustellen.
Autor: Erwin Riedmann

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 608-611