Michel Wieviorka: Kulturelle Differenz und kollektive Identitäten. Hamburg 2003. 246 S.

Aus der Bewegungsforschung kommend hat sich der französische Philosoph und Soziologe Wieviorka in den 1990er Jahren mit Arbeiten zum erstarkenden Rassismus hervorgetan. Mit dem neuen Buch hilft er verzettelte Diskussionen über kulturelle Differenz und Identität jenseits des Gegensatzes von Liberalismus und Kommunitarismus neu zu ordnen. Seine Hypothese ist, dass die Moderne nicht zur Abschaffung oder zum langsamen Verschwinden von kulturellen Partikularismen führt, sondern sie erst hervorbringt (26).

Gelten die Erfahrungen der Diaspora-Juden und der amerikanischen Schwarzen als paradigmatische Fälle für Bevölkerungsgruppen, die die Forderung nach kultureller Anerkennung (oftmals verknüpft mit der sozialen Frage) erhoben, bildeten sich im Zuge der Ereignisse um 1968 neue Bewegungen heraus. Erst mit diesen gewann die Frage kultureller Differenz breitere wissenschaftliche Relevanz, und das, obwohl sie zunächst im Gegensatz zu den linksradikalen Ideen und Gruppierungen zu stehen schien (29). In einer zweiten Welle identitätspolitischer Bewegungen sieht Verf. die Frage kultureller Anerkennung noch stärker mit sozialer Gerechtigkeit verknüpft; Beispiele hierfür sind vor allem die Indianerbewegungen in Lateinamerika (37). Kulturelle und soziale Logiken zu verbinden, werde durch die Praxis der Diskriminierung nahe gelegt, die immer wieder Phänomen betrachtet. Das ist zwar plausibler, als kollektive Identität nur als Ergebnis von nutzbringenden Kalkülen und Strategien anzusehen. Ausgeblendet werden in beiden Fällen zuordnen.zeige, dass Zugehörigkeiten nie neutral sind, "sondern [...] im Rahmen der sozialen Hierarchie" (40) funktionieren. Die Verbindung kultureller und sozialer Problemstellungen sei zwar nicht zwangsläufig, aber folgerichtig, denn mit dem Ende des fordistischen Zeitalters habe sich auch die soziale Frage selbst verändert; sie sei nicht mehr ohne das Kulturelle zu stellen: "Im Zentrum der sozialen Frage standen nun nicht mehr Ausbeutung und Produktionsverhältnisse, sondern Ausschließung und Instabilität" (47). Verf. will sowohl Merkmale untersuchen, die zu gegebenen Zeitpunkten bestimmte Identitäten charakterisieren, als auch die Prozesse beschreiben, "in deren Verlauf die Identitäten auftauchen, sich verwandeln, auflösen und neu zusammensetzen" (124). Er vertritt die These, dass die Produktion von Differenzen "heute im Mittelpunkt der Arbeit der Gesellschaften an sich selbst" und nicht als ein verschwindendes Phänomen an deren Rändern stehe. Prozesse der "kollektiven Selbstbehauptung" (144) werden Verf. zufolge durch die komplementären Bedingungen der Existenz eines Herrschaftsverhältnisses und eines Prinzips der Achtung ermöglicht. Unter der ersten Bedingung wird auf die theoretische wie juristische Tatsache reagiert, dass Gesellschaft kein homogenes Ganzes aus freien und gleichen Individuen ist, sondern dass Ablehnungen und Herabsetzungen von Gruppen stattfinden, gegen die sich zur Wehr gesetzt wird. Die Soziologie der Differenz sei "zwangsläufig auch eine Soziologie der sozialen Hierarchie, der Herrschaft und der Ausschließung" (144f). Die zweite Bedingung besagt, dass die Akteure sich auch als wertvolle Wesen erfahren müssen. Hier zeigt sich, dass der Identitätsproduktion nicht ein Opferstatus vorausgehen muss, sondern dass sie auch einer Sinnsuche entspringen kann. Verf. schlägt deshalb vor, die Umkehrung von Stigmatisierungen als ein zentrales strategisches Moment der Differenzproduktion zu begreifen. Wie seit den Schwulen- und Lesben-Bewegungen bekannt ist, können unter bestimmten Bedingungen aus Schmähbegriffen positive Selbstbezeichnungen werden. Dabei darf auf die Beschreibung der Hindernisse, die dieser Strategie im Wege stehen, nicht verzichtet werden. Verf. schließt sich einem dynamischen Modell von Ethnizität im Anschluss an das interaktionistische Paradigma an. Demnach stelle sich Ethnizität vornehmlich in zwischenmenschlichen Interaktionen her und wird als ein mikrosoziologisches aber die Strukturen, die jemanden ganz ohne eigenes Zutun einer ethnischen Kategorie
Dass Verf. der Gewaltförmigkeit von Identität im Sinne einer dominanzgesellschaftlichen oder staatlich-administrativen Zuschreibung eine geringere Bedeutung beimisst, belegen seine Ausführungen über den Zusammenhang von Kultur, Identität und Erinnerung. Er weist der Erinnerung einen zentralen Stellenwert in der Konstitution von Identität zu (196). Andererseits brauche die Identität zu ihrer Herausbildung aber auch das Vergessen und die Amnesie (197). Insbesondere die nationale Identität müsse ihre Gräueltaten vergessen, um sich zu begründen - angesichts deutscher Leitkultur- und Schlussstrichdebatten ein nur allzu schmerzhaftes Argument. Das Gedächtnis fasst Verf. im Anschluss an Henri Bergsons Definition nicht als Speicher, sondern als eine dynamische Funktion auf und rechnet es - als kreativ und verändernd -- eher der subjektiven Produktion zu als der Reproduktion von Ideen (200). Am Beispiel der nationalen Erzählung verdeutlicht Verf., wie Erinnern und Vergessen zusammen funktionieren. In der nationalen Identität finde das Subjekt Identität und Erinnerung, habe aber zugleich an der Produktion und Verbreitung einer Geschichte Anteil, "die die Opfer, Verlierer und ihre eventuelle Nachkommenschaft zu Amnesie, Vergessen und Verdrängen verdammt" (203). Ist das Gedächtnis der subjektive Gegenpol zur auf Vernunft, Dokumenten und Beweisen gründenden Geschichtsschreibung - "das Gedächtnis schreibt keine Geschichte" (217) -, so ist im sozialen Phänomen des kollektiven Gedächtnisses doch wieder der/die Einzelne dem System untergeordnet. Dass kulturelle Identitäten wie die von Nationen, die im Vergleich zu Arbeiter- oder Bauernidentitäten immer noch besser funktioniert haben, durch aktuelle politökonomische Prozesse geschwächt werden, stellt auch die Grundfesten der Wissenschaften in Frage, die diese zum Gegenstand haben. Allerdings ist zu bezweifeln, ob erst der Niedergang nationaler Identitäten diagnostiziert werden muss, um die Ausrichtung der Sozialwissenschaften am Nationalstaat zu kritisieren.
Autor: Jens Kastner

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 755-757