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Kategorie: Rezensionen

Christian Zeller (Hg.): Die globale Enteignungsökonomie. Münster 2004. 316 S.

David Harvey sieht in der Entwicklung hin zu einem "offen militärgestützten US-Imperialismus" ein Zeichen für die Schwächung der US-Hegemonie. Ursächlich ist die Unfähigkeit neoliberaler Politik, einen "nachhaltigen Akkumulationsprozess im Sinne von
Produktion auf erweiterter Grundlage" zu gewährleisten (184). Daraus resultierten die verstärkten Bestrebungen zur "Akkumulation durch Enteignung", womit Verf. im Anschluss an Rosa Luxemburg auf die Beständigkeit von Prozessen der ›ursprünglichen Akkumulation‹ (Marx) verweist.

Eine solche Form der Akkumulation ist keine simple Folge ökonomischer
Zwänge, sondern Resultat des "Unwillen der Bourgeoisie" Klassenkompromisse einzugehen, wodurch Möglichkeiten zur Überwindung der Überakkumulation "durch soziale Reformen im Innern" blockiert werden(190) - was die Gefahr einer "deflationären Depression" herauf beschwöre (206). Akkumulation durch Enteignung schließt ganz unterschiedliche Prozesse
ein: "die spekulativen Raubzüge" des Finanzkapitals, die "Schaffung intellektueller Eigentumsrechte" (TRIPS), der "Raubbau an Naturgütern", und ganz generell alle Formen von Privatisierungen sowie die "Einkreisung der Allgemeingüter" (196ff). Das produktive Zentrum der Weltwirtschaft verlagere sich derweilen nach Ostasien, v.a. nach China. Damit verbunden ist eine Verschärfung internationaler Konkurrenz und "geopolitischer Konfrontationen" (189). - Christian Zeller unterscheidet "Formen der klassischen ursprünglichen Akkumulation, moderne Formen der Erweiterung kapitalistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse, Prozesse wie Fälschung und Raub", die Abschöpfung "von Teilen des in anderen sozialen Organisationsformen erzeugten Werts" und die Ausweitung privater Eigentumsrechte (11). Hier zeigt sich bereits die Unschärfe des Begriffs der Enteignungsökonomie, unter den unterschiedlichste Prozesse subsumiert werden. Claude Serfati bezeichnet den "Militarismus" als "bewaffneten Arm der Globalisierung" (21), unabdingbar zur Stützung der "Herrschaft des rententragenden Kapitals" (23). Die Ausweitung der Rüstungsindustrie wiederum stütze die schwache Konjunktur in den USA. Der neue Imperialismus dient der "Ausdehnung des Raumes, in dem das Kapital seine Eigentumsrechte durchzusetzen vermag" (49), Luxemburg lässt grüßen. Wie Harvey befürchtet auch Serfati das Aufflammen interimperialistischer Rivalitäten, wobei Europa den USA subsumiert wird - als neuer Gegner wird China aufgebaut (48; vgl. auch Zeller, 96ff). Hinter dieser Staaten-Rivalität, so Zeller, steht die "oligopolistische Rivalität der großen, weltweit tätigen Konzerne" (105) - wenn es sich doch aber um transnationale Konzerne handelt, wie kann dann unvermittelt von nationalen Rivalitäten gesprochen werden?
Neoliberale Globalisierung fasst Verf. nur als krisenhaften Abbau fordistischer Formen. Er stellt die ungleiche und "instabile" Form des Kapitalismus in den Vordergrund (66ff), während er gleichzeitig an Kohärenzvorstellungen für eine stabile Reproduktion des
Kapitals festhält (296).
Michel Husson schildert den Aufstieg und Fall der ›New Economy‹. Das Platzen der Spekulationsblase zersetzte den Mythos der immateriellen Ökonomie, in der "die Bestimmung des Werts von Waren durch die gesellschaftlich notwendige Arbeit" nicht länger der Realität entspreche (144). Die mit den Informationstechnologien verbundenen Produktivitätssteigerungen konnten sich aufgrund stockender gesamtgesellschaftlicher Nachfrage nicht in höheres Wachstum übersetzen (132ff). Warum die Verwandlung von Dienstleistungen in Waren, die "Ultra-Kommodifizierung" (147), allerdings nicht möglich sein sollte (149), der Kapitalismus an Grenzen stoße, bleibt unverständlich und erinnert an Zusammenbruchsthesen der späten 1920er Jahre. - François Chesnais betont die chronische Krisenhaftigkeit des "finanzdominierten Akkumulationsregimes" (247) und zeigt, wie
kapitalistische Akkumulation auf Aneignung von Mehrwert aus kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Produktion beruht (224ff). Anders als bei Hilferdings Begriff des Finanzkapitals steht nun weniger die Verflechtung von Banken und Industrie im Zentrum als der Einfluss institutioneller Anleger (z.B. Pensionsfonds). Veränderungen der Produktion, der "Corporate Governance", werden aber nur auf strukturelle Verschiebungen im Finanzsystem zurückgeführt. - Stéphanie Treillet zeigt, wie im Zuge der imperialistischen Reorganisation geschlechtsspezifische Unterdrückung neue widersprüchliche Formen annimmt:
die "Ausbreitung und Schrumpfung der Lohnarbeit auf Weltebene" integriert Frauen in Erwerbstätigkeit und schiebt sie zugleich in den informellen Sektor. Während die Weltbank die Interessen von Frauen aufnimmt, um neoliberale Reformen in Richtung "Empowerment", Eigenverantwortung und (klein)unternehmerischer Selbstständigkeit voranzutreiben (176), stellen die Strukturanpassungsprogramme des IWF diese wieder in Frage. Verf. warnt aber davor, die "mystifizierten traditionellen Gesellschaften im Namen der Bekämpfung des Imperialismus und der Kommodifizierung der Welt nostalgisch zu betrachten und dabei ihre grundsätzlich unterdrückende Dimension für Frauen auszublenden" (178). -- Für Serfati und Chesnais sind Kapitalisierung und Rente zentrale Faktoren der Erschöpfung natürlicher Ressourcen (268ff), die inzwischen "die physischen Bedingungen sozialer Reproduktion bedrohen" (285). Verf. begreifen die ökologische Krise als "Krise der menschlichen
Zivilisation", aber nicht des Kapitals (275). Letzteres entdeckt das Feld der nachsorgenden Umweltpolitik als neues Investitionsgebiet. - Zeller stellt eine Perspektive "gesellschaftlicher Aneignung" dagegen, die die Eigentumsfrage und eine umfassende Demokratisierung aufgreift und sich auch vor dem Problem sinnvoller Planung nicht scheut; angesichts der in transnationalen Konzernen erprobten Planungsprozesse bestünden dafür durchaus Voraussetzungen (307f).
Im vorliegenden Band werden die globale Ausdehnung von Lohnarbeit und damit der Mehrwertproduktion vernächlässigt, was zu einer Überbetonung von Enteignungsprozessen als primärer Quelle von Mehrwertaneignung führt (vgl. Harvey, Zeller). Gerade die Verwandlung gesellschaftlicher und natürlicher Sphären in Ware ist Ausdruck intensiver Akkumulation (wie etwa im Fordismus die Ausdehnung auf den Bereich häuslicher Reproduktion). Darüber hinaus wird ein dem Fordismus entlehnter Kohärenzbegriff angelegt, der stabilitäts-fixiert alle Formen von Zwang und Gewalt sogleich als Inkohärenzen behandelt. Demzufolge wäre nur ein widerspruchsloser Kapitalismus ein kohärenter. Ferner geraten Anleihen bei der Regulationstheorie und Gramsci einseitig ökonomistisch: von Regulation ist keine Rede, Hegemonie bezieht sich nur auf Verhältnisse zwischen Staaten. Die widersprüchliche Materialisierung von Kräfteverhältnissen wird ebenfalls reduktionistisch behandelt, wenn
etwa Harvey davon spricht, dass die "Macht des Staates instrumentalisiert" wird (19). Doch die Elemente einer globalen Enteignungsökonomie und ihrer gewaltförmigen (imperialistischen) Begleiterscheinungen stärker ins Blickfeld gerückt zu haben,
verdeutlicht die Schattenseiten neoliberaler Globalisierung.
Autor: Mario Candeias

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 764-766