Ulrich Bielefeld: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich. Hamburg 2003. 416 S.

Tanja Thomas: Deutsch-Stunden. Zur Konstruktion nationaler Identität im Fernsehtalk. Frankfurt/M-New York 2003. 438 S.

Carsten Winter, Tanja Thomas u. Andreas Hepp (Hg.): Medienidentitäten. Identität im Kontext von Globalisierung und Medienkultur. Köln 2003. 400 S.

Entgegen der Einordnung von Frankreich als politisch fundierte Staatsnation und von Deutschland als ethnisch begründete Kulturnation vertritt Bielefeld die These, dass diese binäre Kategorisierung erst nachträglich während kriegerischer Auseinandersetzungen geschaffen wurde. Sie greift nicht eine vorgängige Differenz auf, sondern ist selbst ein Mittel der Differenzierung.

Verf. begreift Nation als Differenz- und Einheitsbegriff. Sie stellt als Reaktion auf die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften die Fiktion einer Einheit her, die nicht auf vorgängigen, zu realisierenden Werten beruht, sondern in der Gegenwart und Zukunft erst hergestellt werden muss. Die territoriale Abgrenzung nach außen ist begleitet von der Strukturierung und Legitimierung einer Nation aus sich selbst heraus. "Die Nation institutionalisiert sich nach innen und außen als der Ort des Politischen und zugleich als Medium des Fiktionalen, eine Großgruppe schaffend, die sich der Vorstellung entzog und daher Darstellung verlangte." (47) Im gleichen Zug ergibt sich eine "Dramatisierung der Zugehörigkeitsfrage" (12). Verf. verweist damit auf einen bisher theoretisch unterbelichteten Aspekt in der Nationalismusforschung: Differenz ist der Form Nation ebenso inhärent wie Einheit. Nationen brauchen andere Nationen als Markierung und Bestimmung der Differenz nach innen und außen. Nation "ist an diesen Plural gebunden" (19) und setzt insofern Grenzen: Extreme Formen von Nationalismus, die das Eigene essenzialisieren und ins Unendliche ausdehnen (wollen), überschreiten das Prinzip der Nation.
Im empirischen Teil zeigt Bielefeld anhand dreier Vergleiche zwischen je einem deutschen und einem französischen Intellektuellen des 19. Jh. die Variationen des Themas Nation als Einheit und Differenz. Übereinstimmungen und Differenzen in den Selbstthematisierungen werden dabei folgerichtig nicht nationalisiert. Anhand von Johann Gottlieb Fichte und Maurice Barrès zeigt er, wie Kultur- und Staatsnation in den Selbstthematisierungen verwoben sind, sich gegenseitig bedingen und nicht einseitig einem Land zugewiesen werden können. Die Differenz von Staat und Kultur ist konstitutiver Bestandteil von beiden Konzepten. Bei Max Weber und Emile Durkheim sind nicht die unmittelbar politischen, nationalistischen Texte zur Nation Gegenstand der Analyse. Verf. zeigt vielmehr, wie mit Nation verknüpfte Kategorien implizit die theoretischen Entwürfe durchziehen und strukturieren. "Die klassische Soziologie konnte Nation und Gesellschaft nicht auseinander halten." (189) Implizit unterliegt der Soziologie bis heute der Bezug auf die eigene Gesellschaft als nationale (bürgerliche) Gesellschaft, und Nationen werden - ebenso wie in der Geschichtswissenschaft - unreflektiert als Gegebenes hingenommen. Bei Ernst von Salomon und Louis Ferdinand Destouches, genannt Céline, zeigt Verf., wie ›Nation‹ nach dem Ersten Weltkrieg in einen spezifischen Nationalismus transformiert wird. Indem das Volk den Staat als zentralen Bezugspunkt ablöst, lösen sich die Grenzen der Nation tendenziell auf; ihre Realisierung wird in die Zukunft verlegt. - Die Studie bringt eine anregende soziologische Perspektive in die Nationalismusforschung. Besonders überzeugen ihre begrifflichen Präzisierungen. Leider erschwert das Fehlen von strukturierenden Elementen wie Zusammenfassungen, innertextlichen Bezügen etc. erheblich die Lektüre. Bielefeld stellt durchgängig, wenn auch eher flüchtig, Bezüge zu aktuellen Entwicklungen her. Die Tatsache, dass zwar ein geschlossenes Nationenmodell gescheitert ist, der Nationalstaat aber nach wie vor eine starke Mobilisierungskraft besitzt und zur einzig völkerrechtlich anerkannten Form von Kollektiven, Verwaltungseinheiten und Herrschaftsgebieten geworden ist, zeigt die Aktualität der Frage.
Bei Thomas, die Debatten um die doppelte Staatsbürgerschaft in Fernsehtalkshows von 1998 und 1999 analysiert, liegt der Akzent auf einer ganz anderen Form der Selbstthematisierung, nämlich auf der (Re-)Produktion nationaler Identität in der Interaktion. Medien werden dabei "als zentraler Ort der Formierung subjektiver Haltungen und kultureller Positionen" (55) betrachtet, das Eigene und das Fremde als Gegenstand dynamischer Aushandlungsprozesse. Verf. untersucht, wie trotz differenter Positionen immer wieder "ein konstruiertes nationales ›Wir‹ als konsensstiftende Einheit" (91) hergestellt wird. Nationenkonzepte versteht sie als Bestandteil von Prozessen der Rassifizierung, Kulturalisierung und Ethnisierung.
Die Analyse zeigt, dass Selbst- und Fremdkategorisierungen durchgängig eine hohe Relevanz zugesprochen wird. Ihre Verweigerung wird nicht akzeptiert; insgesamt dient "nationale Kategorisierung als bedeutungsvolles Instrument für die Identitätskonstruktion des Individuums und zugleich als Basis für die Partizipation im gesellschaftlichen Prozess" (187). Dabei herrscht durchaus "Uneinigkeit über das Ausmaß der Bedeutung nationaler Zuschreibungen" (206). Mit nationalen Kategorisierungen gehen unmittelbar Relativierungen und Distanzierungen einher. Doch gerade die Ambiguität stützt die Tragfähigkeit des nationalen ›Wir‹. Neben klassischen Elementen nationaler Konstruktionen wie Heimat, Tradition, Geschichte, Religion, Kultur und Sprache dienen auch Begriffe wie Demokratie, Moderne und Europa sowie Fragen der Loyalität, der natürlichen Identität und der (staatlichen) Handlungsmacht durchgängig als konsensstiftende Bezugspunkte. Debattiert wird lediglich über das Ausmaß ihrer Bedeutung und die zugeschriebene Natio-nalspezifik. Der "flexible ›Konsens‹ über die Relevanz dieser Ressourcen ist konstitutiv für die Herstellung eines nationalen ›Wir‹, das so immer wieder neu (re-)produziert werden kann" (209f). Befürworter wie Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft bekräftigen die gemeinsame hegemoniale Position des nationalen ›Wir‹ durch den normativen Rekurs auf Demokratie oder den Schutz der Verfassung. Gleichzeitig wird ein Missbrauchs-, Belastungs- oder Kostentopos verwendet. Die These der Unvereinbarkeit der Kulturen zielt auf die potenzielle Gefährdung von Frieden, innerer Sicherheit und Sozialstaat. Kosten-Nutzen-Analysen in Bezug auf Kultur, Wirtschaft und nationale Interessen verweisen auf eine Ökonomisierung der Debatte. Durchgängig verdrängen die Argumentationsstrategien Humanitäts- und Gerechtigkeitskategorien, entindividualisieren und verdinglichen die Anderen und festigen die Grenzziehung und das nationale ›Wir‹. - Die bemerkenswerte Analyse zeigt, wie Diskurs und Gegendiskurs bei der Konstruktion des Eigenen und des Fremden miteinander verwoben sind und das nationale ›Wir‹ durch die Fixierung gemeinsamer Bezugspunkte interaktiv hergestellt wird. Hervorzuheben sind die gute Strukturierung und die übersichtliche Einführung des Themas sowie die für die Lektüre gut aufgearbeiteten Einzelanalysen. An wenigen Stellen gegen Ende verlieren sie jedoch aufgrund der Kürze mitunter ihre Nachvollziehbarkeit. Zudem nehmen die auflockernd eingestreuten Forschungsbezüge manchmal den Charakter einer Gegenargumentation an, wodurch die Analyse des Konstruktionsprozesses dahin tendiert, in eine Debatte der Inhalte abzurutschen.
Die bei Thomas empirisch behandelte Frage, welche Bedeutung die Medien im Zeitalter von Globalisierung und Kulturwandel für Identitätsprozesse haben, wird im Sammelband von Winter, Thomas und Hepp in einigen Beiträgen theoretisch konzeptionalisiert. Hg. gehen davon aus, dass die Herstellung von Identität, translokal über Medien vermittelt, zum alltäglichen Problem geworden sei. Zu hinterfragen ist die Verallgemeinerung und Einseitigkeit der nicht weiter diskutierten Ausgangsthese, "dass Medien und Identitäten in der heutigen Zeit kaum voneinander zu trennen sind. [...] Viele der Muster, Strukturen, Diskurse und Themen, die unsere Identität formen und prägen, haben wir letztlich nur über die Medien internalisiert" (18). - Friedrich Krotz will "Identität dynamisch als kontinuierliche Balance zwischen Selbstdarstellung und Zuschreibung" (28) begreifen, die Kommunikation ermöglicht. (Massen-)Medien bieten dabei Orientierung und machen Differenz erfahrbar. Er kritisiert im Einklang mit interkultureller Forschung das Konzept kollektiver Identität als empirisch nicht tragend und theoretisch problematisch. Es sei fraglich, inwiefern sich aus sozialen Gemeinsamkeiten eine solche begründen ließe. Als Alternative präsentiert Krotz eine nicht weiter diskutierte und deshalb wenig überzeugende Unterscheidung zwischen basalen Eigenschaften, zu denen Geschlecht, Sprache, Kultur, Ethnie, Klasse, kulturelle und sozialisatorische Ressourcen gehören, und oberflächlichen Ressourcen, die durch Zuordnungen zu gesellschaftlichen Gruppierungen entstehen. - Winter geht von einem "komplex medial artikulierten prozessualen Zusammenhang der Produktion, Allokation, Rezeption und Nutzung von Kommunikation" (63) aus, wobei die relativ autonomen Binnenlogiken ebenso Berücksichtigung finden wie ihre komplexe Artikulation als Ganzes. Ziel ist, die in Identität eingeschriebene Ambivalenz und Différance, aber auch Begehren und Schweigen empirisch-ethnographisch zu erfassen. Es ist fraglich, ob das abstrakt-bleibende Modell allein bereits dazu beiträgt, Identität in ihrer Komplexität und Konflikthaftigkeit empirisch zu rekonstruieren. Dennoch bietet es sinnvolle Differenzierungen. - Kurt Imhoff diskutiert wie Bielefeld die Bedeutung nationalistischer Differenzsemantik. Er exemplifiziert sie am revolutionären Paris von 1789. Für ihn "zeigt sich [...] durch die ganze Moderne hindurch das ›Janusgesicht‹ des Nationalstaats, der als Identitätsverband sowohl von ethnischen oder kulturalistischen Herkunftsprojektionen als auch von Prinzipien demokratischer Partizipation zehrt. Beides verschafft dieser komplexen Identitätsformation das kulturelle Substrat staatsbürgerlicher Solidarität" (83). Abschließend fragt Imhoff im Hinblick auf die Holzwarth), die Anti-Globalisierungs-Bewegung (Wimmer) und politische Plakate (Haunss) untersucht werden.Europäische Union nach Problemen dieser Verschränkung, wobei er wenig überraschend ein Legitimations-, Integrations- und Identitätsdefizit feststellt. Beizukommen sei diesem nur "im Rahmen von Auseinandersetzungen um einen europäischen Grundrechtsvertrag und um Verfahren demokratischer Legitimation" (88). - Hepp geht demgegenüber von einer Ent-Nationalisierung von Identität aus. Obgleich lokale und nationale Aspekte hier wichtig bleiben, gewinnen mit der Globalisierung der Medienkommunikation deterritorialisierte (vorgestellte) Gemeinschaften an Bedeutung. Hepp betont die spezifische Bedeutung der Medien für ethnische, kommerzielle bzw. populärkulturelle und politische Gemeinschaften - etwa die neuen sozialen Bewegungen oder die Diaspora. Inwiefern neben der Deterritoria-lisierung nicht auch von einer (Re-)Territorialisierung, z.B. in bestimmten Stadtvierteln und Städten, zu sprechen ist, wird nicht diskutiert. - Die vielfältigen empirischen Studien gehen Identitätsangeboten in verschiedenen Medien nach, z.B. in Kolonialzeitschriften (Walgenbach), Stadt-Videos (Christmann) und Gegenwartsfilmen (Sanders). Weiterhin wird untersucht, wie Daily Soaps (Götz) oder das Internet (Funken) rezipiert werden und wie sich Jugendliche mit Migrationshintergrund Medieninhalte aneignen (Birken-Silverman). Abschließend werden Risiken und Potenziale von Identitätsarbeit diskutiert, wobei u.a. Selbstdarstellungen im Fernsehen (Mikos), Videoproduktionen von Jugendlichen (Niesyto/
Identität wird durchgängig als prozessual, kommunikativ und fragmentarisch verstanden. Dennoch wird sie in der Empirie, und potenziell auch in der Theorie, meist vereinfachend als bestimmbare Eigenschaft einer Person oder Gruppe behandelt. Damit bleiben Fragen unterbelichtet, die das Janusgesicht von Identität reflektieren. Ebenso wie die Frage, welchen Gewinn es bringt, von Medienidentitäten zu sprechen - auch wenn die Medien und ihre Entwicklung offensichtlich einen Einfluss auf ›Identität‹ haben.
Autorin: Juliette Wedl

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 901-904