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Kategorie: Rezensionen

Pia Tschannen: Putzen in der sauberen Schweiz. Arbeitsverhältnisse in der Reinigungsbranche. Wettingen 2003. 158 S.

"Die Schweinereien der anderen wegputzen", das ist nicht das Schlimmste, sagt Rosa, eine sans-papiers aus Peru, sondern die unwürdige Behandlung und die Entrechtung der Arbeitskräfte im Reinigungsgewerbe (135ff). "Schneller, flexibler, billiger und trotzdem sauber!" lautet die Forderung der boomenden Branche mit etwa 100 000 (offiziell) Beschäftigten in der Schweiz, mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren, 80 % Frauen, 1,3 Mrd. Franken Umsatz, bis 2008 wird eine Verfünffachung prognostiziert (141).

Über die realen Arbeitsverhältnisse liegen aber nur undifferenzierte und lückenhafte empirische Daten vor, was den Eindruck von "unsichtbaren Arbeiterinnen" verstärkt (10). Verf. verknüpft ihre Strukturanalyse mit qualitativen Interviews, die verteilt über den Text in Form von kurzen Portraits und Zitaten eingeschoben werden.
Mit der allgemeinen "Änderung der Produktionsweise" (12) verallgemeinern sich nachteilige Arbeitsbedingungen, die in bestimmten Bereichen der Frauenarbeit immer schon gegolten haben und nun auf breiter Linie die Lebens- und Arbeitsverhältnisse verschlechtern (145ff). Zwischen einzelnen Gruppen von Arbeitskräften bestehen dabei zunächst erhebliche Differenzen. Angestellte betriebsinterner Reinigungsdienste in großen Unternehmen, v.a. aber im öffentlichen Dienst, genießen den Vorteil unbefristeter Arbeitsverträge und höherer Löhne, die allerdings gerade einmal an das von Gewerkschaften geforderte Mindestlohnniveau von 3000 Franken monatlich heranreichen (117). Diese Arbeitskräfte erfahren durch den Trend zur Ausgliederung der Reinigungstätigkeiten an spezialisierte private Unternehmen daher die deutlichsten Veränderungen - ihre relativ stabile Beschäftigungssituation ist ein "Auslaufmodell" (143). Amina aus Kroatien berichtet: "Ich war früher vom Warenhaus angestellt und dann wurde die Reinigung nicht mehr intern gemacht, sondern über ein Reinigungsinstitut. Und dann habe ich den Vertrag gewechselt [...] Entweder bist du arbeitslos oder du nimmst dieselbe Arbeit einfach unter einem anderen Arbeitgeber." (21) Solche Änderungskündigungen sind mit Lohneinbußen (bis zu 10 Franken pro Stunde), Reduzierung der Arbeitszeit (ohne Lohnausgleich), Arbeitszeitflexibilisierung, Arbeitsverdichtung und verminderten Kündigungsschutzbestimmungen etc. verbunden (ebd.; 46, 117ff, 144). Mit solchen Formen der Flexibilisierung kehrt "Prekarität auch im formellen Sektor" (147) ein, weil auch dort Elemente der Informalisierung zunehmen, d.h. "Verstöße gegen arbeitsrechtliche Vereinbarungen" einerseits und Ausdehnung der ungeregelten Bereiche andererseits. Verhältnisse, die bei der Arbeit in Privathaushalten und insbesondere bei Illegalisierten schon lange vorherrschen - hier gibt es keine Verträge. Trotz Schwarzarbeit und illegalem Aufenthalt verfügen auch diese Arbeitskräfte über gewisse Rechte, sind sich dessen jedoch meist nicht bewusst (140). Zudem lassen sich diese Rechte, z.B. auf Auszahlung des Lohns trotz Schwarzarbeit und fehlender Aufenthaltserlaubnis, nur schwer durchsetzen, was sich etwa an den zum Teil monatelangen Verspätungen bei der Auszahlung der Löhne zeigt (121).
Verf. betont: "Flexibel ist nicht informell ist nicht prekär" (39); "nicht jedes befristete oder schlecht bezahlte Arbeitsverhältnis" muss als "prekär gelten" (41). Entscheidend ist das "komplexe Zusammenwirken mehrerer Faktoren" (115): nicht-existenzsicherndes Einkommen, mangelnder sozialer Schutz (gegen Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit), unzureichender rechtlicher Schutz, entwürdigende Arbeitsbedingungen, extreme Arbeitsverdichtung/Stress, überlange Arbeitszeiten, mangelnde Planbarkeit von Alltag und Zukunft, Illegalisierung/Kriminalisierung etc. (34ff, 146ff). Stärker als die Begriffe ›atypische Arbeit‹ oder ›Informalisierung‹, denen der "Inhalt fehlt" (11), rückt ›Prekarisierung‹ "einerseits Fragen der Machtverhältnisse, andererseits die persönliche Lebenslage der Betroffenen" ins Blickfeld (36). Prekarisierung schafft "Dispositionen der Unterwerfung" (Bourdieu, 36). Der Begriff ›prekär‹, lat. precarius, wird in seinen Dimensionen erst deutlich, wenn Menschen für harte und widerrufliche Arbeit dankbar sein müssen (35).
Die vordringende "Arbeit auf Abruf" kann Lohnschwankungen von bis zu 1000 Franken pro Monat zur Folge haben (46f). Diskontinuierliche Arbeit und geringe Stundenzahl zwingen viele Frauen zur Mehrfachbeschäftigung: Zusätzlich zu ihrer zeitintensiven, aber unregelmäßigen Arbeit im Krankenhaus "putzt Pilar Martinez jede Nacht ein Restaurant sowie zweimal in der Woche eine Arztpraxis" und "einige Privathaushalte" (46ff) - sie kommt damit auf ein Arbeitspensum von ca. 60 Stunden pro Woche, davon 20 nachts. Es fehlt dann die Zeit, um nach Auswegen aus dieser Situation zu suchen: eine "Spirale der Prekarisierung" wie es der marche mondiale de femmes 2000 nannte (148). Physische wie psychische Gesundheitsprobleme sind die Folge (122). Auch sozial wird die Arbeit nicht honoriert: "Wir werden nicht anerkannt als Menschen", das macht die Tätigkeit "schmutzig und dreckig", erzählt Carmen, die in einem Krankenhaus putzt. "Wir haben vier Vorgesetzte", stehen permanent unter Beobachtung. Krankenschwestern "können locker mal eine Minute oder zwei miteinander schwatzen, da sagt niemand etwas. Aber wir Reinigerinnen nicht." (112) Unterdrückende Praktiken dieser Art fördern die Isolierung der Einzelnen. Carmen kann nicht begreifen, "weshalb ihre Vorgesetzten so handeln" (113). Darüber hinaus wird ein Arbeitstempo und -pensum diktiert, das die Frauen "nicht oder nur dann einhalten können, wenn sie ihre Arbeit nicht mehr richtig ausführen" (117). Das rührt an den Gebrauchswertstolz der Arbeitskräfte, es ist nicht ›sauber‹ und die Kunden sind unzufrieden (21). Jenseits unsicherer Beschäftigung sind Arbeitstempo und Behandlung oft nicht auszuhalten: "Das ist einer der wichtigsten Gründe für den häufigen Personalwechsel", meint Angela aus Italien (119). Die Frauen kündigen selbst oder verschwinden einfach. Damit sorgen sie auch "selbst für die Reproduktion der neuen Verhältnisse", "größtenteils gezwungenermaßen" (148). Verf. verdeutlicht strukturelle Veränderungen und subjektive Realitäten eindrücklich, das beschriebene Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen fasst sie aber nicht als zu politisierenden Widerspruch, sondern nur aus der Perspektive der Verelendung. "So wird die saubere Schweiz vermutlich auch weiterhin von Arbeitskräften geputzt, die [...] für ihre Arbeit Löhne erhalten, von denen sie nicht leben können." (149)
Autor: Mario Candeias

Quelle: Das Argument, 46. Jahrgang, 2004, S. 910-912