Tanja Marquardt: Käthes neue Kleider. Gentrifizierung am Berliner Kollwitzplatz in lebensweltlicher Perspektive. Tübingen 2006 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts 102). 201 S.

Das Viertel um den Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg zählt zu denjenigen Berliner Gebieten, die sich seit der Wende in baulicher, sozialer und funktionaler Hinsicht am stärksten gewandelt haben. Inzwischen gilt das Viertel mit der symbolischen Mitte des Bronzedenkmals von Käthe Kollwitz auf dem gleichnamigen Platz als Paradebeispiel für Gentrifizierung im Ostteil von Berlin und ist in der Literatur eingehend behandelt worden. Der spezifische Zugang der vorliegenden Studie, die als ethnologische Dissertation entstanden ist, liegt in der lebensweltlichen Perspektive, die das raumbezogene Alltagshandeln von Frauen thematisiert, welche zur Wohnbevölkerung des Prenzlauer Bergs vor den rapiden Wandlungen gehörten. Die Autorin hat mit 19 Probandinnen qualitative Interviews und "Wahrnehmungsspaziergänge" unternommen sowie von ihnen Mental Maps erstellen lassen, wobei sie 1995 mit den Erhebungen begann und die Personen während mehrerer Feldphasen in den folgenden Jahren, sowie es möglich war, erneut befragt hat.

Bevor auf die Ergebnisse dieser qualitativen Erhebungen eingegangen wird, sind die ersten 100 Seiten der Arbeit theoretischen Erwägungen zur Gentrifizierung und den entsprechenden Prozessen im Untersuchungsgebiet gewidmet. Dadurch gelingt es auf der einen Seite, spezifische Rahmenbedingungen und Pfadabhängigkeiten der Prozesse zu verdeutlichen. So war das Gebiet vor der Wende keineswegs ein Schwerpunkt armer und alter Bevölkerung, ja die Entwicklungen in den 1980er Jahren lassen sich aufgrund des Zuzugs einer ersten Generation von Pionieren schon als Beginn der Gentrifizierung deuten. Auf der anderen Seite werden manche Darstellungen zu wenig mit der alltagsweltlichen Perspektive verknüpft. Ein relativ umfangreiches Kapitel über "politische Gentrifizierung", das in Anlehnung an politökonomische Untersuchungen aus der Literatur, die Gentrifizierung als Ergebnis einer Wachstumskoalition zwischen dem lokalen Staat und der Immobilienwirtschaft ansieht, kann nur lose mit den Alltagspraktiken der Bewohnerinnen verbunden werden.
Zur Interpretation dieser Alltagspraktiken greift die Verfasserin auf die Kapitalformen von Bourdieu zurück, die sie in ihrer Bedeutung vor und nach der Wende kennzeichnet. Auf dieser Basis werden verschiedene Typen von Raumaneignung entworfen und dargestellt, die als Restringierte, Kieznostalgikerin, Hedonistin und Mitgestalterin bezeichnet und für die charakteristische Alltagspraktiken geschildert werden. Die entsprechenden Kapitel stellen sicher das Zentrum der Arbeit dar und enthalten eine ganze Reihe von interessanten Interpretationen, so auch zur symbolischen Rolle von Gardinen und Wohnungsschlüsseln. Leider werden die Mental Maps kaum systematisch ausgewertet, die wenigen abgebildeten Beispiele bleiben unkommentiert.
Insgesamt handelt es sich um eine auf weite Strecken lesenswerte Arbeit, deren spezifische Fragestellung allerdings mit anderen Ansätzen überfrachtet wird. Begrüßenswert ist die theoretisch-konzeptionelle Fundierung der qualitativen Ergebnisse, jedoch leidet die Begriffsbildung nicht selten an Unschärfe (z.B. beim Habitus-Begriff, sogar bei der Gentrifizierung). Die Studie bereichert die bislang vorhandene sozialwissenschaftliche Literatur zur Gentrifizierung im Prenzlauer Berg.
Autor: Franz-Josef Kemper

Quelle: Erdkunde, 62. Jahrgang, 2008, Heft 2, S. 174-175