Ines Kohl: Tuareg in Libyen. Identitäten zwischen Grenzen. Berlin 2007. 244 S.

Die traditionellen Siedlungsgebiete der Tuareg befinden sich in den Staaten Algerien, Libyen, Mali, Niger und Burkina Faso. Ihre aktuelle Lebenssituation wird dadurch gekennzeichnet, dass sie in keinem dieser Länder über größeren politischen oder gesellschaftlichen Einfluss verfügen und als marginalisierte Minderheiten vielfachen Diskriminierungskonstellationen ausgesetzt sind. Hinzu kommt eine zwar saisonalen Schwankungen ausgesetzte, jedoch seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts klar identifizierbare und quantifizierbare Abnahme der ökologischen Tragfähigkeit ihres Lebensraumes sowie eine nachhaltige Degradation der Weidegründe ihrer Herden. Die stetige Südverlagerung ihres Bevölkerungsschwerpunktes aus der zentralen Sahara (Algerien, Libyen) in den nördlichen und mittleren Sahel (Mali, Niger) sowie z.T. sogar in den südlichen Sahel (Burkina Faso, Süd-Niger) ist ein Ausdruck dieser Entwicklung, deren Brisanz noch dadurch verstärkt wird, dass in umgekehrter Richtung eine von Süd nach Nord strebende Ausdehnung der Besiedlung, dem allgemeinen Bevölkerungsdruck folgend, über die agronomische Trockengrenze hinaus die traditionellen Siedlungs- und Reserveräume der Sahel-Tuareg schrumpfen lässt.

Zu den sozio-politischen und natürlichen bzw. quasi-natürlichen Hazards kommen als dritte, die Lebenswelten der Turaeg nachhaltig beeinträchtigende Komponenten bestimmte Aspekte europäischer Außen- und Wirtschaftpolitik hinzu. Diese bestehen in einer vielfach einseitigen Unterstützung der Nicht-Tuareg-Bevölkerung in den Sahelstaaten Niger und Mali sowie dem bei weitem desaströser wirkenden Billigverkauf von europäischen Fleischerzeugnissen über Verteilerzentren an der Oberguineaküste, welche die traditionell auf Viehexport und Fleischversorgung weiter Teile Westafrikas ausgerichtete Tuareg-Viehzucht vielfach kollabieren lässt. Der Wegfall der Möglichkeit, Vieh zu kostendeckenden Preisen zum Verkauf zu bringen, kann aktuell durchaus als "economic shock" gewertet werden.
Vielfach wurde die Situation der Tuareg als ein "Leben im Dreieck" (Göttler) bezeichnet, mit dem die überwiegend von Tuareg besiedelten Gebiete zwischen Ghadames in Nordwest-Libyen, Zinder im Südosten Nigers und Timbuktu nahe dem Niger-Binnendelta in Mali umschrieben werden. Diesem topographischen Bild soll an dieser Stelle das der von drei Stressfaktoren geprägten aktuellen Lebenssituation der Tuareg gegenübergestellt werden, welches im Beziehungsfeld zwischen sozio-politischer Diskriminierung, nachhaltiger Verkleinerung des Lebensraums und extern ausgelösten ökonomischer Schocks zu definieren ist.
Vor diesem allgemeinen Hintergrund werden die besonderen Lebenswelten der Tuareg in Libyen als Hauptthema des vorgelegten Bandes beleuchtet. Dabei hat es die Autorin auf hervorragende Weise verstanden, aktuelle Lebenssituationen im Licht ihrer historischen Vorläuferformen zu präsentieren. Die Studie geht daher in vielen Bereichen weit über die engeren (Landes-)Grenzen Libyens hinaus und analysiert nicht nur die in Libyen ansässigen Kel Azjer, sondern auch Gruppen der Kel Ahaggar in Algerien sowie die der Kel Geres und der Kel Air in Niger und die der Kel Adrar und der Kel Dennek in Mali. Den thematischen Gesamtrahmen der am Institut für Völkerkunde der Universität Wien vorgelegten Arbeit bildet dabei die Frage nach der Bestimmung und der Analyse der verschiedenen Ebenen von Identifikation der auf libyschem Staatsgebiet lebenden Tuareg, die einerseits von Akteuren und Institutionen des libyschen Staates zu Libyern gemacht werden sollen, dabei zunehmend an traditioneller Identität verlieren, andererseits aber gleichzeitig, in Strukturen ethno-linguistischer und verwandtschaftlicher Beziehungen verhaftet, versuchen, eine eigene Identität zu erhalten bzw. aufzubauen. Besonderen Wert erhält die Studie dadurch, dass die Verfasserin unterschiedliche Altersstufen und sowohl die Lebenswelten der Frauen als auch die der Männer analysiert. Dazu ist sie als Außenstehende und zugleich Dazugehörende in besonderer Weise ebenso prädestiniert wie für den transregionalen Überblick, der immer wieder die Bereiche Südwest-Libyens mit der Situation in den angrenzenden Gebieten in Algerien und Niger vergleicht. Die zentrale Sahara kennt die Autorin in den Siedlungsbereichen der Tuareg Algeriens, Libyens, Malis und Nigers besonders gut, nicht nur als Feldforscherin, sondern auch von zahlreichen Privatreisen, die sie bereits von klein an, in Begleitung ihrer Eltern, mit den Tuareg und ihrer Welt vertraut machte. Die für die vorgelegte Studie zunächst nur zeitweise gewährte, wegen staatlicher Auflagen immer wieder beeinträchtigte Feldforschungsphase in Libyen wurde mehrfach von einem Abbruch der Feldarbeiten und von Zwangsaufenthalten in Europa unterbrochen. Insbesondere für eine Langzeitanalyse und die Identifikation von zeitlichen Entwicklungssträngen hat sich aber gerade diese Form staatlicher Reglementierung letztendlich als besonders positiv für die Ergebnisfindung herausgestellt, da sowohl räumlicher als auch inhaltlicher Abstand zum Objekt und eine den Feldforschungsphasen zwischengeschaltete Reflexion der Herangehensweise den notwendigen Überblick ermöglichten.
Nachdem verschiedene Konstruktionen von Identität zwischen Stamm und Staat beleuchtet und dabei der Schulausbildung als Trägerin einer nationalstaatlichen Sozialisation besonderes Augenmerk geschenkt wurde, widmet sich die Arbeit im Anschluss daran der Gruppe der Imushar, die nicht als in erster Linie ethnisch definierte Gruppe auftreten, sondern als Tuareg, welche im Zuge der o.?g. politischen und ökologischen Krisen aus Niger nach Südwest-Libyen gelangten und von den hier bereits vorher ansässigen Tuareg der Kel Azjer als "die Anderen" wahrgenommen und bewertet werden. Die Imushar besetzen zur eigenen Überlebenssicherung ökonomische Nischen im kleinen und großen Grenzverkehr legaler wie semilegaler Prägung zwischen Niger, Libyen und Algerien. Die Autorin bezeichnet sie daher als "Borderliner der Sahara", was sicher eine schicke Übersetzung für "Grenzgänger" darstellen soll, wegen der Nähe zum in der Psychologie jedoch eindeutig negativ besetzten Image dieser Vokabel als ein begrifflicher Unfall gewertet und nicht weiter verwendet werden sollte.
Klar erkennt die Autorin die realistischen Konstellationen der Möglichkeiten politischer Einflussnahme der Tuareg in Libyen allgemein sowie im Sahara-Bereich im Besonderen und stuft diese richtig und begründet als marginal ein. Damit heben sich ihre Analysen positiv von der wissenschaftlich nicht haltbaren These einiger anderer aktualistischer soziologischer und ethnologischer Autoren ab, die - häufig auch ungeniert über die Tatsache, dass sie selbst noch nie in Libyen waren, hinweggehend - behaupten, aktuell sei in der nigrischen und malischen Sahara "so etwas wie ein Tuareg-Staat im Entstehen". Ines Kohl hält sich fern von solchen Versuchungen und legt eine ausführlich recherchierte Studie vor, deren Aussagen durch vor Ort selbst erhobene Primärdaten gestützt werden.
Auf den ersten Blick wirken die "Stadtgeschichten" im letzten Kapitel, wo Charakterisierungen einiger Oasenorte in Südwest-Libyen (Ghat, Tunin, Tadaramt, Al-Barkat und Fewet) geliefert und zum Teil mit Kartenskizzen aufgewertet werden, wie eine Art Anhang, jedoch dokumentiert die Autorin damit neben der Weitergabe von Primärdaten an interessierte Außenstehende vor allem auch den Wunsch der einheimischen Befragten nach Dokumentation ihrer Traditionen als geschriebene Geschichte.
Insgesamt liegt mit "Tureag in Libyen" ein Werk vor, welches hinsichtlich der Fülle an wertvollen, aktuellen Ergebnissen, der Genauigkeit der Recherche, des Umfangs der den wesentlichen Aussagen zugrunde liegenden Feldforschung, der Identifikation mit dem und der Liebe zum gewählten Thema durchaus den Vergleich mit den ethnographischen Standardwerken von Fuchs, Göttler, Lhote, Nicolaisen oder Spittler erlaubt. Die Autorin hat eine ausgesprochen beachtenswerte Studie aus einem Raum und einer Thematik vorgelegt, die umso interessanter wird, als diese Region aktuell dabei ist, zu einer für Feldforscher immer schwieriger zu erreichenden Welt zu werden.
Autor: Andreas Dittmann

Quelle: Geographische Zeitschrift, 96. Jahrgang, 2008, Heft 3, S. 186-187