Das Argument 267: Global Geschichte denken. Berlin: Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT) 2006 (48. Jg., 4. Heft) 159 S. (S. 487-636 des Jahrgangs)

Der Heftschwerpunkt zielt auf Beiträge zu einer "kritischen Globalgeschichte" ab, die in unterschiedlicher Weise und unterschiedlich explizit an Hardt und Negri, Empire anknüpfen. Gleichsam den theoretischen Hintergrund dazu liefert Wolfgang Fritz Haug im Anschluss an eine Reihe neuerer Beiträge vor allem aus dem Socialist Register, wenn er die Unterscheidung der Begriffe "Imperium" und "Imperialismus" erläutert: Bezieht sich das eine auf einen übergreifenden und hegemonialen globalen Herrschaftszusammenhang, so steht der andere in Anlehnung an die klassische, vor allem Leninsche Imperialismustheorie für die diktatorischen Potentiale zwischenstaatlicher Konkurrenz auf globaler Ebene. Die empirische Einlösung dieser begrifflichen Unterscheidung wird freilich dadurch kompliziert und politisch brisant, dass die USA "einerseits als globaler Gesamtkapitalist fungieren, andrerseits als staatliches Konkurrenzorgan des nationalen Kapitals" (518), also die Interessen des Gesamtsystems als solche des einen übermächtigen, nationalstaatlich organisierten Kapitals definieren und vertreten.

Dies widerspricht den Vorstellungen von einer "transnationalen Kapitalistenklasse" (519), aber auch den hier nicht angesprochenen Überlegungen von anderer Seite zu einer neuerlichen Herausbildung in scharfer Konkurrenz zueinander stehender imperialistischer Blöcke. Wo andererseits "die neoliberale Globalisierungspolitik ... den nationalen Befreiungs- und Entwicklungsregimes vollends das
Rückgrat gebrochen" hat, legt die Ausschau nach Gegenkräften eine prekäre Situation bloß. Haug zitiert den "Klartext" von Aijaz Ahmad: "Wo nationale Befreiung war, ist jetzt Terrorismus" (519), bezweifelt freilich andererseits "die Aussage von Amin u.a., dass die USA die Autonomie der Länder des Südens vernichten" und verweist auf das Scheitern von Abkopplung und selfreliance "primär aus endogenen Gründen" (519f), die er aber nicht weiter spezifiziert. Vor allem scheint er sich nicht für die Frage des postkolonialen Staates oder die Staatsproblematik generell zu interessieren. Die "weiterentwickelten marxistischen Denkmittel", deren Einsatz zur Analyse der "Widersprüche des Weltkapitalismus" dringlich ist, um zu verhindern, dass "die Antwort zunehmend von 'reaktionären und atavistischen Elementen' [Colin Leys & Leo Panitch] kommen" wird (520) scheinen sich auf die Frage von Imperium und Imperialismus und damit letztlich auf die problematische, von Haug hier aber nicht problematisierte Konzeption von Hardt und Negri zu beschränken. Auch von daher muss es irritieren, dass bei Haug andere als staatlich orientierte Gegenbewegungen - auch wenn sie gegenwärtig breit diskutiert werden - nicht vorkommen.
Diese Bewegungen werden ausdrücklich angesprochen in Richard Heigls Versuch, "Eckpunkte einer Globalgeschichte für transnationale soziale Bewegungen" gleichsam als Nachfolger der "lokalen Geschichtswerkstätten" zu formulieren, die er als "historiographisches Pendant" der "neuen sozialen Bewegungen" versteht (536). Gegenüber deren Konzeptionalisierung durch Dieter Rucht oder Joachim Raschke klagt Heigl eine Theorie sozialer Bewegungen als "menschliche Praxis" ein (539), die der gestiegenen Komplexität solcher Bewegungen gerecht werden und deren emanzipatorischen Inhalt bestimmen kann. Die dafür zentrale Subjekt-Objekt-Beziehung verweist auf die aktuelle Bedeutung des "Marxismus" als "die historische Subjektwissenschaft par excellence" (540). Strategische Bedeutung erhält dabei das aus der Kritischen Psychologie entlehnte Konzept der "Handlungsfähigkeit" als "Ergebnis eines Lernprozesses", wobei es um "die Strukturierung und Veränderlichkeit des Gesamtprozesses durch kollektive Akteure" gehe (540f). Geschichtsforschung habe dann zu klären, "wann Kooperationen, Bündnisse und Solidarisierungen auftraten bzw. was diese verhindert hat" (542), wobei Heigl es für nötig hält, eigens für das Vorgehen Wolfgang Abendroths zu plädieren, solche Unternehmen nicht etwa auf eine Partei oder einen Flügel etwa der Arbeiterbewegung zu beschränken. Die Perspektiven einer "globalen Historik" freilich bleiben lückenhaft und beschränken sich auf die Forderung, diese müsse sich größerer Komplexität als hergebracht stellen, "vernetzter und selbstreflexiver werden" und schließlich mit Walter Benjamin den Fluchtpunkt der eigenen Epoche im Auge behalten (546). Gewiss.
Drei Beiträge lassen Vorstellungen darüber erkennen, wie Analysen einer globalen Gesellschaftsgeschichte aussehen könnten. Sie stammen aus einem in Kassel angesiedelten übergreifenden Arbeitszusammenhang. Rolf Czeskleba-Dupont gibt im Wesentlichen einen Überblick über die Befassung mit Wallersteins Weltsystem-Analyse vor allem im Argument, die wenig überraschend auf die fortbestehenden "Grundprämissen der kapitalistischen Weltwirtschaft" verweist. Er referiert abschließend Samir Amins Ratschlag, im Sinne einer "Alternativ-Globalisierung" "solange eine wirksame Reform der UNO ausstehe ... (den) Kampfplatz der europäischen Integration" zu nutzen (569), vor allem zur Durchsetzung "universell menschenwürdigerer Formen des Stoff- und Energiehaushaltes" (570). Darüber, wie sich dies zum Kapitalismus verhalten könnte, haben sich einige Leute Gedanken gemacht, hier bleibt diese Frage in der Luft hängen. Mir scheint, das methodologische Problem liegt - was bei Autoren, die den Anspruch marxistischer Analyse manchmal schon zwanghaft durch ihre Texte tragen, frappieren muss - im Verzicht auf eine systematische Untersuchung der gesellschaftlichen Formbestimmtheit der analysierten Verhältnisse. Dieses Problem stellt sich ja auch bei Wallersteins Zusammenblenden von Zirkulations- und Produktionsprozess. In etwas anderer Form ist diese Problematik auch in Karl Hermann Tjadens "Arbeitspapier zur Zivilisationstheorie" zu erkennen. Hier soll einmal mehr geklärt werden, warum der "Westen Eurasiens" (554) am Ende zu globaler Überlegenheit aufstieg, wobei es vor allem um die "ökosystemaren Beziehungen" (551) geht. Dementsprechend möchte Tjaden "die Grundlagen für jene Überlegenheit gegenüber ... letztlich auch anderen Zivilisationstypen ..., die letztlich als unwiderstehliche ökonomische Potenz erscheinen sollte" und vor allem das "Streben nach Effektivitäten, die nur als unmittelbare Aufwand-Ergebnis-Verhältnisse begriffen wurden und daher mittel- und längerfristig meist zerstörerisch wirken sollten" (553), auf das alte Sumer zurückverfolgen. Hier seien die Grundlagen für eine Praxis der "Selbstverstärkung" und "Machterweiterung" gelegt worden, die schließlich "die Form der 'Akkumulation des Kapitals'" angenommen habe (556). Nicht nur werden solche Kontinuitätslinien hier auf Kosten der Formbestimmtheit und damit der Frage nach Brüchen ausgezeichnet - man vermisst u.a. auch die Befassung mit der eigentlich naheliegenden Diskussion über die "Achsenzeit", die bei aller begrifflichen Unklarheit hier deutlich weiter fortgeschritten ist. Doch selbst in diesem engen Rahmen finden sich erstaunliche und nicht erklärte Engführungen. Warum beschränkt Tjaden sich auf Sumer und erwähnt Ägypten kein einziges Mal, warum reflektiert er nicht den großräumigen Austausch mit dem Osten und Süden Eurasiens sowie Afrika, wobei der Technologietransfer bekanntlich über Jahrtausende eben nicht primär in Richtung Osten, sondern viel eher umgekehrt verlief? Den "systematischen Vergleich" und "das hier wichtige China" erwähnt Tjaden nur abschließend (557f), scheint sich jedoch nicht darüber im Klaren zu sein, dass gerade dort eine zweifellos grundlegend von der europäischen unterschiedene Landwirtschaft frühzeitig ebenfalls Umweltzerstörungen großen Stils zur Folge hatte, dass aber auch die "Massenerzeugung von Gütern" (553) keineswegs eine westliche Spezialität ist.
Eine global umfassende, freilich zeitlich sehr uneinheitlich eintretende Umwälzung ist die "neolithische Revolution" oder "Neolithisierung", wie Lars Lambrecht unter Verweis auf die neuere Diskussion "die in verschiedenen Teilen der Erde unabhängig voneinander stattfindenden Übergänge zur Landwirtschaft" bezeichnet (580). Richtig, wenn auch nicht gerade originell betont Lambrecht den langfristigen und keineswegs etwa punktuellen Charakter dieser Prozesse ebenso wie im Ausblick den noch nicht abgeschlossenen der industriellen Revolution. Über Produktivkräfte und Subsistenz notiert er die "Herausbildung sozialer Ungleichheit und ... Herrschaft", scheint jedoch entgegen dem ethnologischen Grundwissen einerseits zu postulieren, "Männer/Väter" seien in Jäger- und Sammlergesellschaft nicht Teil von "ursprünglichen Abstammungsgruppen" gewesen und andererseits einen universellen Übergang von "nichthierarchischen matrilinearen Konstellationen ... zu ... patriarchalischen ... Gentilgesellschaften" zu unterstellen (581f). Schließlich verknüpft er den neolithischen Übergang mit der "Verteidigung des gemeinsamen Lebensraumes" (582), was zur Ausdifferenzierung eines Machtapparates geführt habe. Man muss nur bei dem von Tjaden wie Lambrecht viel zitierten Engels einmal nicht im Ursprung des Staates nachschauen, sondern da, wo er über die Dithmarscher Bauern schreibt, um zu erfahren, dass es selbst in Teilen Deutschlands auch anders ging. Gerade in der theoretischen Verarbeitung dieser vielfältigen und verschlungenen Entwicklungswege und damit auch der Zeugnisse eines wenigstens in Ausschnitten erkennbar werdenden Universums der Möglichkeiten menschlicher Existenz und nicht im Scheuklappenblick der offenbar hartnäckigen Traditionen eines unilinearen Evolutionismus liegen die Herausforderungen und die Faszination einer globalen Geschichte, wie auch ihr möglicher Beitrag zur Einsicht in Chancen der Emazipation heute. Auf dem Weg, "Geschichte global zu denken", hat (auch) das Argument, geht es nach diesem Heft, noch eine gewaltige Wegstrecke vor sich, zugleich aber fragt sich in diesem Fall, ob an allen Scheidewegen bisher weise gewählt wurde. Vielleicht würde ein offenerer Blick über den eigenen Diskussionszusammenhang hinaus, der etwa kommentarlos mit dem Verweis auf "HKWM" angesprochen wird, hier weiter helfen.
Autor: Reinhart Kößler

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 109/110, S. 233-237