Drucken
Kategorie: Rezensionen

Ariane Leendertz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert. Göttingen 2008 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 7). 459 S.

Die Raumplanung in Deutschland wird in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend von europäischen Vorgängen beeinflusst und aus einer europäischen Perspektive gestaltet. Insbesondere durch diese Verflechtung mit der übergeordneten Politikebene ist die Raumplanung im Deutschland des 20. Jahrhunderts ein Gegenstand der historischen Betrachtung geworden.
Ariane Leendertz  hat nun in ihrer Tübinger Dissertation den ersten zusammenhängenden Überblick über diese Geschichte erarbeitet. Bislang haben sich historische Arbeiten vor allem der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet, in die die Institutionalisierung der Raumplanung auf Reichsebene fiel und in der die Raumplanung massiv als wirtschaftspolitisches Instrument im Altreich und als Herrschaftsinstrument der Germanisierungspolitik in Osteuropa aufgebaut wurde.

Leendertz' Anspruch umfasst dagegen auch die Vorgeschichte dieses Institutionalisierungsprozesses in der Weimarer Republik und seine Folgewirkungen in der Bundesrepublik. Diesem Anspruch wird sie mit einer knappen Sprache und präzisen Argumentationsführung, aber gleichwohl mit einem voluminösen Seitenumfang, der sich zu einem Vierteil der NS-Zeit, zur Hälfte aber tatsächlich der Bundesrepublik widmet, vollkommen gerecht. Allein dies unterstreicht schon die originäre Stellung der Leendertzschen Arbeit. Primär interessiert sie sich dabei für "Kontinuitäten und Wandel von planerischen Konzepten, Leitbildern und Ordnungsvorstellungen als auch nach Positionierungs- und Legitimationsstrategien" der Raumplanung (S. 13). De facto liefert Leendertz  für den Zeitraum 1920 bis 1980 jedoch nicht nur eine Geschichte der raumplanerischen Konzepte und ihrer ideengeschichtlichen Ursprünge, sondern zugleich eine Institutionengeschichte, die in vielen Teilen exemplarisch mit einer Geschichte einflussreicher Personen angereichert wird. Die verschiedenartigen Erzählstränge werden von Leendertz souverän und sprachlich gekonnt miteinander verknüpft. Sie schöpft dabei nicht nur aus einer beeindruckenden Literaturkenntnis, sondern zusätzlich aus umfangreichen Archivarbeiten, die vor allem Wissenslücken für die Raumplanung in der Bundesrepublik schließt. Mit all diesen handwerklichen Vorzügen geht Leendertz  weit über den Standard von Dissertationen hinaus und setzt einen Markstein, der auch für die künftige Bewertung der deutschen Geschichte der Raumplanung bedeutsam bleiben wird.
Erste Anfänge einer raumplanerischen Idee sieht Leendertz im Laboratorium der Moderne um die Jahrhundertwende entstehen. Hier werden die Initiativen für Gartenstädte, großstadtkritische Ansätze in der Architektur und Verfechter der Inneren Kolonisation zu Impulsgebern. Diese Bewegungen sieht Leendertz  zwischen "Zivilisationskritik und Fortschrittsoptimismus" (S. 27) angesiedelt und diagnostiziert agrarromantische, nationalistisch-völkische und organizistische Gedankenströmungen als geistiges Milieu. Darin äußert sich ein Streben der Versöhnung von Stadt und Land, von Industrie und Landwirtschaft, von Mensch und Natur, wobei es sich allerdings um politisch-ideologische Gruppierungen von ganz unterschiedlicher Provenienz und Reichweite handelt, deren gemeinsamen Nenner Leendertz  in ihrem Harmoniestreben sieht. Gleichwohl geht die Institutionalisierung der Raumplanung von anderen Akteuren - den großen Kommunalverwaltungen - aus. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden überkommunale Planungsinstanzen gegründet, deren bedeutendster der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk war. Gleich in diesem ersten Kapitel schildert detailliert Leendertz einige der Tagesaufgaben der ersten Raumplanung, wie etwa die Bereitstellung raumbezogener Daten, Flächenerschließung und Verkehrsplanung. Besonders erhellend ist der Nachweis, dass die überörtlichen Institutionen vor allem in den wirtschaftlich großen Verflechtungsräumen entstanden, neben dem Ruhrgebiet waren dies u.a. Berlin, Halle-Merseburg, Hamburg und Westsachsen. Entsprechend stellten die industriellen Großunternehmen und die städtischen Verwaltungen wesentliche Handlungsträger bei der Implementation der Raumplanung dar. Diese Akteurskonstellation und die eher nüchterne und zeitaufwendige Tagesarbeit kontrastieren mit der "Sehnsucht nach Harmonie" (S. 75), die Leendertz  als geistige Klammer der frühen Raumplanung identifiziert. Dies liegt zum einen daran, dass Leendertz sich primär auf die Auswertung von Denkschriften und Grundsatzerklärungen stützt. Zum anderen ließen die Themen, Arbeitsmethoden und institutionellen Verankerungen, die Leendertz  interessanterweise in ihren materialen Analysen der Planungstätigkeit benennt, nicht in ihre zusammenfassenden Bewertungen ein. Dieses Missverhältnis zwischen Detailanalyse und Gesamturteil beruht auch auf einer geringen Anerkenntnis realer Handlungsprobleme. Wohnungsnot und geringer Lebensstandard in den Großstädten, fehlende Versorgungseinrichtungen im ländlichen Raum, Wanderungsbewegungen oder Umweltbelastungen werden von Leendertz  zwar aufgegriffen, erscheinen aber im Kontext der raumplanerischen Gedankenwelt als kulturkritische Warnungen vor der Vermassung und als überzogene Ängste, in denen die Dynamik der modernen Gesellschaft nur als Verwerfung und Disharmonie wahrgenommen werden kann. Auf diese Weise stellen sich die Krisendiagnose und die darauf antwortenden Konzepte und Aktivitäten der Raumplaner in den 1920er Jahren für Leendertz  als eine kulturkritische Hybris dar. Ein international vergleichender Blick hätte hier zeigen können, dass die Komponente der konservativ-lebensphilosophischer Weltanschauung zwar für die deutsche Situation bedeutsam war, aber auch ohne ihre Anwesenheit kam es in den westlichen Industrieländern zu parallelen Institutionalisierungsprozessen der Raumplanung - verwiesen sei hier auf den ersten County-weiten Regionalplan in den USA für Los Angeles von 1922 oder die Gründung der "Regional Planning Association of America" von 1923.
In der NS-Zeit kam es mit der Gründung der "Reichstelle für Raumordnung" (RfR) und der "Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung" (RAG) 1935/6 zur Implementation der Raumplanung auf nationaler Ebene. Diese gebietsfüllende Orientierung setzte sich mit der Ausdehnung der Raumplanung auf die im Zweiten  Weltkrieg eroberten osteuropäischen Gebiete, die dem deutschen Staats- bzw. Einflussgebiet zugeschlagen werden sollten, fort. Hier wurde das Planungsamt beim Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums, Heinrich Himmler, zur zentralen Schaltstelle der Raumplanung. Insgesamt sieht Leendertz eher ideologische Kontinuitätslinien und einen schrittweisen Übergang von der Raumplanung der 20er Jahre zur NS-Verwaltung. Es "vermischten sich rassenideologische Elemente der nationalsozialistischen Agrar- und Bevölkerungspolitik und Vorgaben des Vierjahresplans mit Traditionen der Großstadtkritik und der Großstadtbewegung" (S. 115), und in den Vorgaben der RfR äußerte sich "genau jene Mischung aus überkommenen Sichtweisen aus der Jahrhundertwende, Traditionen der Raumplanung, [und] aktuellen politischen Erfordernissen und Elementen der NS-Ideologie" (S. 129).
Gegen diese These der Kontinuität sprechen jedoch erstens die Beweggründe der nationalen Ausdehnung der Raumordnungspolitik. Das Motiv für den autoritären Machtstaat lag darin, ein weiteres Instrument der Gestaltung und Kontrolle zu erlangen. Die meisten der von Leendertz  bemühten Vordenker einer Reichsplanung in der Weimarer Republik standen in einem krassen Gegensatz zu den Zielen dieser Raumordnungspolitik, die sich als Instrument einer regulierten Ökonomie und der Kriegsvorbereitung verstand. Zweitens wird von Leendertz  zu Recht die Orientierung an der ökonomischen Effizienz des "Volksganzen" hervorgehoben. Dies führte in der NS-Zeit methodisch zu einem Boom für die Statistik und zu quantifizierend-mathematischen Ansätzen, planerisch zu Leitbildern einer optimalen Raumstruktur im Sinne der ökonomischen Rationalität und prozessual zu einer von Experten ausgeübten Sozialtechnologie. Es gehört zu den Glanzstücken der Leendertzschen Arbeit, in diesem Kontext die Entstehung bzw. Rezeption der Tragfähigkeitsrechnung von Gerhard Isenberg (S. 163 ff.) und des "Zentrale-Orte-Modells" von Walter Christaller (S. 167 ff.) nachzuzeichnen. Beide Konzepte erlebten im Rahmen des Völkermords in Osteuropa eine starke Konjunktur. Diese Orientierung an abstrakten Effizienzzielen stand - und auch dies macht Leendertz  deutlich - in Widerspruch zu den rassistisch-nationalistischen Ideologieelementen in der Raumplanung. Der gleiche Widerspruch ist in der NS-Forschung zur Wirtschaftspolitik prominent anhand des Konflikts von völkischen Zielen und der Rationalisierung der Vierjahrespläne diskutiert worden. All dies deutet daraufhin, dass das "Harmoniedenken" nicht die gemeinsame Klammer für die Raumplanung der 20er und 30er Jahre darstellen kann. Drittens ging mit der Machtergreifung 1933 eher ein berufsbiographischer Bruch einher. Zentrale Protagonisten der Siedlungsverbände wie Philipp Rappaport und Stefan Prager wurden abgesetzt und später verfolgt. Dagegen stammten zahlreiche der neuen Akteure, wie etwa Konrad Meyer, Gerhard Isenberg, Norbert Ley oder Josef Umlauf aus den Geburtsjahrgängen nach 1900. Demnach scheint die in der Forschung gängige These von der nationalsozialistischen Revolution als Generationenkonflikt beispielhaft auf die Raumplanung zuzutreffen.
Schließlich bleibt die Frage nach der Modernität der Raumplanung unter dem Nationalsozialismus. Sofern man einen emphatischen Begriff der Moderne im Sinne Max Webers vertritt, dann war die Raumplanung im Nationalsozialismus ihr in vielen Elementen zugehörig. Professionalisierung, Formalisierung von Verfahren und die Herausbildung einer Expertenkultur, die sich eigene Diskussions- und Ausbildungsinstitutionen schuf, sowie schließlich die Vorschläge zur Flurbereinigung, Industrieansiedlung und Bevölkerungsverteilung haben eindeutig die Modernisierung beschleunigt. Dieser Aspekt wird von Leendertz  auch überzeugend herausgearbeitet (S. 120, 202 ff.). Gleichwohl wird die Raumplanung im Nationalsozialismus als anti-moderne Strömung vorgestellt, die eine Entdifferenzierung räumlicher Strukturen angestrebt habe. Letztlich kommen hier zum einen Ambivalenzen des Moderne-Begriffs zum Tragen, gegenüber denen Leendertz sich nicht hinreichend positioniert. Zum anderen wird der Aspekt der Harmonie-Sehnsucht überbetont, so dass die Leistungen bei der Entwicklung von Raumplanung als technokratischem Instrument während der NS-Zeit unterschätzt werden.
Auch für die Zeit nach 1945 vertritt Leendertz  die Kontinuitätsthese, und sie kann hier erdrückende Belege anführen. Dies betrifft nicht nur die inzwischen bekannte schnelle Wiederkehr der Deutungs- und Funktionseliten in die administrativen und wissenschaftlichen Instanzen der Raumplanung der Bundesrepublik. (Die DDR wird im Buch ausgespart.) Vielmehr werden auch die institutionellen Neugründungen wie das Bad Godesberger Institut für Raumforschung (IfR) und die Hannoveraner Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) zu Recht als Erben der RfR geschildert. Dabei rekonstruiert Leendertz  jedoch auch die schrittweise Begründung der Raumplanung aus marktwirtschaftlichen Prinzipien, wie sie das IfR unter ihrem Direktor Erich Dittrich vornahm und mit dieser impliziten Kritik am nationalsozialistischen Interventionismus auf den anti-totalitären Gründungskonsens der Bundesrepublik einschwenkte. Demgegenüber verstand sich die ARL unter ihrem Präsidenten Kurt Brüning konzeptionell noch länger als Erbe der RfR. Schließlich zeigt Leendertz  ebenfalls auf, dass wichtige Denkinstrumente der NS-Zeit, wie etwa die Tragfähigkeitsrechnung und das Konzept der Zentralen Orte, auf veränderte Problemkonstellationen in der Bundesrepublik angewandt wurden. Leendertz führt dies weiter zu der These, dass auch das zentrale Leitbild der bundesdeutschen Raumplanung, die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse", in der NS-Zeit wurzele. Dieses Leitbild, das im wegweisenden Gutachten des Sachverständigenausschusses für Raumordnung von 1961 empfohlen wurde und seinen Platz im Raumordnungsgesetz von 1965 fand, führt sie auf die Ideologie der Volksgemeinschaft zurück, die eine Überwindung der Klassengesellschaft versprochen hatte (S. 138 f.). Aber nicht nur diese dunkle Vergangenheit belastete diesen "Kernbestand raumplanerischen Selbstverständnisses" (S. 254). Vielmehr sieht Leendertz  in dem Gedanken eines an sozialen Maßstäben gemessenen räumlichen Ausgleichs die alte Großstadtfeindschaft und Panik vor räumlicher Unordnung wieder erstehen. Mehr noch, die ganze "antiliberale Tradition der deutschen Raumplanung" (S. 261) verkörpert sich für sie in der Gedankenfigur der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. In ihr drückt sich für Leendertz  die Weigerung aus, die Pluralität und Dynamik moderner Gesellschaften zu akzeptieren. In den Legitimationsstrategien der Raumplaner, die die Gleichwertigkeit verstärkt aus den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates ableiteten, sieht sie eine erneute Abkehr von der Marktwirtschaft (S. 281). Auffällig ist, dass das Für und Wider eines Ausgleichsansatzes von Leendertz  wiederum nicht im Kontext des realen Ausmaßes räumlicher Disparitäten in der Bundesrepublik abgewogen wird. Die Kennzeichnung dieser Aktivitäten als keynesianischer Interventionismus stellt noch eine der höflicheren Formulierungen dar, generell ordnet sie den Ausgleichsansatz als Beleg für eine verfehlte raumplanerische Weltbeglückung ein. Mit dieser Kritiklinie, die sich bis zum Ende des Buches durchzieht, legt sich Leendertz  auf eine ultra-liberale Position fest, die jedwede staatliche Aktivität als Eingriff in bürgerliche Freiheitsrechte wertet.
Von dieser Warte aus werden die institutionellen und programmatischen Entwicklungen, vor allem die Verabschiedung des Bundesraumordnungsprogramms 1975, mit dem der Vorrang der Fachpolitiken vor den Belangen der Raumordnung zementiert wurde, als knapper Sieg der Freiheit begrüßt. Am Ende steht für Leendertz die Erkenntnis, dass es sich bei der Raumplanung um ein "utopisches Großprojekt" (S. 391) gehandelt habe, deren Diktate gegenüber "den Menschen" (S. 379) sich nicht durchgesetzt hätten. Insgesamt hat Leendertz  weniger die Geschichte einer Verwaltungs- und Forschungsdisziplin, als vielmehr die Kritik einer spezifischen kulturkonservativen Weltanschauung innerhalb des staatlichen Handelns vorgelegt. Diese Ergebnisse zu den programmatisch-konzeptionellen Entwicklungen sind in die Bilanz der Raumplanung in Deutschland im 20. Jahrhundert einzuordnen. Deren Geschichte war substanziell eine Geschichte der Verflechtung unterschiedlicher Handlungsebenen - das trifft bereits besonders stark auf die Siedlungsverbände der 1920er Jahre zu -, und hält für das gegenwärtige Hinauswachsen der nationalen Raumordnungspolitik auf eine europäische und transnationale Handlungsebene noch viele Lektionen bereit.
Christoph Scheuplein

Quelle: Erdkunde, 63. Jahrgang, 2009, Heft 1, S. 81-84