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Kategorie: Rezensionen

Oliver Marchart und Rupert Weinzierl (Hg.): Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie - eine Bestandsaufnahme. Münster 2006. 211 S.

Vorwiegend in Wien spielt der große Roman Robert Musils, in dem es unter anderem um die "Parallelaktion" geht, eine hochwichtige Affäre von der doch niemand so recht weiß, worum es sich eigentlich handeln mag. Dass sich beim Bedenken des vorliegenden Buches eine solche Assoziation einstellt, hat weniger damit zu tun, dass der Band auf einen Ende 2004 in Wien abgehaltenen Workshop zurückgeht, dort auch herausgegeben wurde und Autorinnen und Autoren großenteils in Österreich rekrutiert wurden. Auch wäre es unsinnig und vermessen, allzu hohe literarische Standards an Unternehmen der kritischen Sozialwissenschaft heranzutragen. Die angesprochene Assoziation bezieht sich auf den (allzu) selbstverständlichen Rekurs auf "die Bewegung" schon im Titel - gemeint ist, wie von den Herausgebern zu erfahren ist, die "globalisierungskritische Bewegung" (7). Sie wiederum wird verschiedentlich als "heterogene ‚Bewegung der Bewegungen'" (Ulrich Brand, 35) ausgezeichnet, als über "Protestereignisse" hinausgehende "komplexe Vermittlungsprozesse" mit "Effekte(n) ... in vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen" (ders., 36) und dementsprechend mit einem "sehr diversifizierte(n) Akteursspektrum" (Achim Brunnengräber, 26).

Dass als Flucht- und "Ausgangspunkt" der "Mythos Seattle" (ders., 28), erscheint, der auf die spektakulären Massenaktionen gegen den WTO-Gipfel 1999 verweist, kann nicht überraschen. Dennoch fragt sich, wie hier ernsthaft in der Einzahl und von einem "Stand" die Rede sein kann, wenn dies nicht bloße Rhetorik sein soll. Der Eindruck weitgehender Beliebigkeit verstärkt sich, wenn Rupert Weinzierl als "Empirische Befunde zum Stand der ‚Bewegung der Bewegungen'" ohne weitere methodologische Erläuterung eine thematisch angeordnete Sammlung von Zitaten aus 20 Interviews "mit AktivistInnen aus Österreich und Italien" (148) präsentiert. Zumindest hätte man sich ein ausdrückliches Nachdenken darüber gewünscht, warum diese Leute eine vorgeblich globale Bewegung repräsentieren können. Wenn es darauf - wie der Anschein erweckt wird - überhaupt nicht ankommt, verstärkt sich der Verdacht, dass es zumindest eine starke Tendenz gibt, "die Bewegung" zu hypostasieren. Umso wichtiger ist hier genauere Aufklärung.
Um es vorweg zu nehmen: Wirklich klüger ist man nach der Lektüre dieses Bandes nicht, wenn es darum gehen soll, zu verstehen, was diese Bewegung eigentlich ausmacht und antreibt und vor allem, was sie zur "Bewegung" macht. Das aber soll nicht heißen, dass hier nicht einige wichtige und auch weiterführende Beiträge enthalten wären, die teilweise auch auf kritische Distanz zum Reden von Bewegung gehen. Das gilt für Achim Brunnengräbers Überblick über die Genese einer "New Global Opposition", wobei - nicht nur hier - vor allem die Rolle der NGOs und ihr Verhältnis zu den Staaten eine zentrale Rolle spielt. Als "neu" stellt Brunnengräber neben eher geläufigen Hinweisen auf Interaktionsformen, Vielfalt oder Hierarchiefeindschaft vor allem die starke Rolle von Akteuren aus dem globalen Süden heraus sowie die unterschiedlichen, etwa gegen "Großalternativen" eher skeptischen Perspektiven, die diese einbringen (24). Ulrich Brand spricht in der strategischen Perspektive einer "Gegen-Hegemonie", die langfristig darauf auszugehen hätte, "die ‚Spielregeln' selbst zu verändern" (42) ein Bündel von Problemen an, die auch in anderen Beiträgen immer wieder aufgegriffen werden. Die Notwendigkeit solcher Gegen-Hegemonie, d.h. des Kampfes um Definitionsmacht, wird gerade an zentralen Ambivalenzen deutlich, die in verschiedenen Beiträgen immer wieder angesprochen werden. Brand selbst verweist auf die Schwierigkeiten des Umgangs mit den Medien, aber auch mit dem Staat. Hier besteht die Gefahr, "die neoliberale Perspektive ‚Markt versus Staat'" argumentativ zu reproduzieren (39), anstatt "Macht- und Herrschaftsverhältnisse ... aus emanzipatorischer Perspektive umfassender in Frage" zu stellen (40). Die Problematik einer verfehlten Nostalgie gegenüber Fordismus und keynesianischer Wirtschaftspolitik wird verschiedentlich aufgegriffen, auch in Joachim Hirschs Unterscheidung zwischen einerseits einer eher "reformistischen" Orientierung von Gruppierungen wie attac oder bestimmte NGOs, für die der Verlust nationaler Souveränität nach wie vor eine zentrale Rolle spielt und die Gefahr laufen, in Form einer "Art Co-Management innerhalb der bestehenden Herrschaftsstrukturen" kooptiert zu werden, sowie andererseits "radikaleren ... eher auf direkte Aktionen setzenden Positionen" (96f). Hirschs demokratietheoretische Überlegungen kreisen weiter um die Konsequenzen aus der Einsicht, dass das etatistische Projekt, "mittels eines Herrschaftsapparates die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beseitigen, die seine Grundlage darstellen" (97) und darum dem Kampf um die Erringung der Staatsmacht Vorrang zu geben, gescheitert ist. Als Perspektive erscheint ein "radikaler Reformismus" jenseits von Nationalstaat, aber auch von Vorstellungen von einem Weltstaat (98), der insbesondere die "Entwicklung demokratischer Strukturen auf internationaler Ebene" anzuzielen hätte (101) - freilich bleibt im Verweis auf NGOs deren eigene Problematik, die Hirsch zuvor angesprochen hatte (95f), ausgespart. Von besonderer Bedeutung auch für die Möglichkeiten des für eine solche Politik unverzichtbaren Aktivismus ist Hirschs Hinweis auf die Chancen, die die Produktivkraftentwicklung für eine relative Freistellung vom "Arbeitszwang" bietet (100), wobei er freilich im Hinblick auf "die globalen Ungleichheiten" auf die Umgestaltung in den kapitalistischen Zentren als Voraussetzung eines auf globaler Ebene vorwärtsweisenden Prozesses verweist (101).

Das kollektive Subjekt, das solche Perspektiven einlösen könnte und damit auch die mit Bewegung bezeichnete Leerstelle füllen könnte, wird in verschiedenen Beiträgen deutlich unterschiedlich bestimmt. Es kann nicht überraschen, dass die (post-)operaistische Perspektive der Hardt/Negrischen "multitude" im Zentrum dieser weitgehend impliziten Kontroverse steht. Die Vorstellung von der "multitude" ist eher implizit präsent in Beiträgen zur Darstellung von Prekarität in MayDay-Aktionen (Sylvia Riedmann) oder auch in Dario Azzelinis Analyse von Repräsentation als Anti-Politik in der Strategie der Zapatisten sowie im Bolivarianischen Prozess in Venezuela. Skeptischer fällt da schon die mehr ins Detail gehende Untersuchung von Stefanie Kron über die Konstruktion von Frauen in radikalen Demokratisierungsbewegungen aus: Sowohl nach der Rückkehr indianischer Bürgerkriegsflüchtlinge nach Guatemala wie bei den Nachbarschaftsräten in El Alto, Bolivien, "die erste respektivste aktuellste politische Artikulation eines neuen Typs indigener Bewegungen" (115), zeigt sich die Tendenz, Frauen als Mütter zu (re)konstruieren und damit aus dem öffentlichen Raum - womöglich mit vermehrten Pflichten - zurückzudrängen. Oliver Marchart befragt literarische Vorbilder bzw. verbreitete 380 Rollenmodelle wie Melvilles Bartleby oder Henry David Thoreau kritisch für das Konzept der multitude auf die Bedeutung von Verweigerung, um aus der Kritik am Passivismus vor allem Bartlebys die Position von Hardt & Negri als "das bloße Dagegen sein einer Vielheit von Solitären" zu kennzeichnen (202). Dem stellt Marchart den "kollektiven Aktivismus" Gramscis (203) scharf gegenüber, wobei freilich dessen "moderner Fürst", der ja eine Allegorie der proletarischen Partei war, eher auf ein weiteres Problem denn auf eine griffige Lösung hinweist, auch wenn Marchart Stephen Gills Formulierung bemüht, in Seattle sei 1999 der "postmoderne Fürst" aufgetreten (205).
Mit auf den ersten Blick sehr kritischem Akzent fragt Nora Sternfeld "Wie steht die Bewegung zum Antisemitismus?" (61) Leider kommt dieser Beitrag über ein Referat antideutscher Positionen und Aufzählungen von Vorfällen, die offenbar evident antisemitisch gesehen werden, nicht hinaus. Insbesondere verzichtet Sternfeld auf jegliche Kontextualisierung der Politik Israels und der Kritik daran, so dass "propalästinensisch" (u.a. 77) offenbar synonym mit antisemitisch oder doch antiisraelisch gebraucht wird oder die Zweite Intifada "ausbricht" und nicht etwa (auch) durch den Besuch Sharons auf dem Tempelberg provoziert wurde. Ob die Autorin weiß, dass Das Finanzkapital nicht ein antisemitisches Traktat ist, kann ebenso bezweifelt werden, wie ihr zugute gehalten werden mag, dass ihr nicht bewusst ist, dass der Satz "Wer heute vom Antikapitalismus spricht ..., kann demnach vom Antisemitismus nicht schweigen" (74) Max Horkheimers Diktum aus "Die Juden und Europa" paraphrasiert, dass wer vom Kapitalismus nicht sprechen wolle, auch vom Faschismus schweigen solle. Andernfalls wüsste man schon gerne, was das genau bedeuten soll. Wer so wie Sternfeld ständig auf Genauigkeit insistiert, sollte schon ein wenig exakter sein.
Insgesamt bestärkt die Lektüre des Bandes die Skepsis gegenüber dem Reden von einer unspezifischen Bewegung im Singular. Auch das hat es nämlich schon allzu oft gegeben.
Reinhart Kößler

Quelle: Peripherie, 28. Jahrgang, 2008, Heft 111, S. 377-380