Geographische Revuegr2 01g

Jahrgang 3 - 2001 -  Heft 2

Marxism in Geography

 

Vorwort

Essays:

  • Neil Smith: Marxism and Geography in the Anglophone World
  • David Harvey: Globalization and the "Spatial Fix"
  • Hans-Dieter von Frieling und Eva Gelinsky: Ökologische Leitplanken und moralische Leitbilder - Wissenschaftliche Empfehlungen für einen zukunftsfähigen Kapitalismus


Besprechungsaufsatz:

  • Heiner Dürr: Handreichungen für diskursive Geographien. Zu Benno Werlens Einblicken in die Sozialgeographie


Einzelrezensionen:

  • Michael Herbert: Kommunale Fehlentscheidungen erkennen und vermeiden. Irrationale Entscheidungsprozesse aus systemorientiert geographischer Sicht. Erlangen-Nürnberg 1998 (Nürnberger Wirtschafts- und Sozialgeographische Arbeiten, Bd. 52). 251 S. (Klaus Kuhm)
  • Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Frankfurt 2000 (Edition Zweite Moderne). 279 S. (Heiner Dürr)
  • Markus Wissen: Die Peripherie in der Metropole. Zur Regulation sozialräumlicher Polarisierung in Nordrhein-Westfalen. Münster 2000. 293 S. (Bernhard Butzin)
  • Hohn, Uta: Stadtplanung in Japan: Geschichte - Recht - Praxis - Theorie. Dortmund 2000. 536 S. (Hans Viehrig)
  • Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001. 309 S. (Heinz Arnold)
  • Sigrun Kabisch und Sabine Linke: Revitalisierung von Gemeinden in der Bergbaufolgelandschaft. Opladen 2000 (Forschung Soziologie 97). 298 S. (Gabriele Saupe)

 

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Marxism in Geography

 
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Diskussionsbeiträge zu Hans-Dieter von Frieling und Eva Gelinsky: Ökologische Leitplanken und moralische Leitbilder – Wissenschaftliche Empfehlungen für einen zukunftsfähigen Kapitalismus


Abgeschickt von Wolfgang Aschauer am 13 November 2001

Die aktuelle Nachhaltigkeitsdebatte mit ihren z. T. oberflächlichen, z. T. recht problematischen Vorschlägen und Analysen verdient ohne Zweifel eine kritische Würdigung. Von Frieling und Gelinski (vFG) haben von dieser Perspektive aus eine wichtige Lücke in der geographischen Wahrnehmung eines Modethemas geschlossen. Dennoch oder auch vielleicht gerade deshalb scheinen einige Einwände gegen ihren Artikel in der GR 3(2)/2001 unumgänglich zu sein.

Wie vFG selbst erläutern, ist "nachhaltige Entwicklung" ein normatives Konzept, also ein Konzept, das bestimmte Feststellungen zur Realität als Ausgangspunkt nimmt, um dann Zielvorstellungen zu formulieren und schließlich zu bestimmen, auf welchem Weg diese Zielvorstellungen realisiert werden können. Ein solches Konzept kann "von innen" diskutiert werden, d. h. unter Akzeptanz sowohl seiner Wirklichkeitsbeschreibung als auch seiner Zielsetzung danach überprüft werden, ob die vorgeschlagenen Instrumente effektiv sind. Eine solche Diskussion wird jedoch von vFG nicht unternommen.

Eine zweite, "von außen" kommende Möglichkeit der Kritik ist es, die Zielvorstellungen des normativen Konzepts in Frage zu stellen, d. h. das, was unter "nachhaltiger Entwicklung" verstanden wird, als irrelevant, unerwünscht etc. zu bewerten. Auch dies unternehmen die Autoren nicht; vielmehr teilen sie die Zielvorstellungen (etwa: Ressourcenschonung) des Konzepts, wenn sie auch dem Begriff der "nachhaltigen Entwicklung" recht skeptisch gegenüber stehen.

Im Zentrum der Kritik der Autoren an dem Konzept steht etwas anderes: die Kritik an seiner Realitätsbeschreibung. Da sein Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnissse ideologisch, kurz: falsch, sei, werde auch das Ziel nicht nur erreicht, sondern alle Versuche, es zu erreichen, dienten nur zur Stabilisierung und Modernisierung der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse - des "Kapitalismus" -, seien aber notwendigerweise ungeeignet zum Schutz vor Umweltzerstörung usw.

Wenn man nun wie vFG nicht direkt das proklamierte Ziel eines normativen Konzepts kritisiert und auch nicht die vorgeschlagenen Maßnahmen, sondern in erster Linie die Realitätswahrnehmung und erst dann die aus der falschen Realitätswahrnehmung folgenden falschen Wege und z. T. Ziele, handelt man sich ein schwieriges Beweisproblem ein: nämlich die Frage, ob eine andere Realitätsbeschreibung bessere und erfolgreichere Wege zu einem Ziel ermöglicht.

Es stellt sich damit die Frage, ob vFG eine Realitätsbeschreibung anbieten, die derjenigen des kritisierten Konzepts "nachhaltige Entwicklung" überlegen ist. Ich möchte dazu einige Positionen der Autoren kurz diskutieren.

1. Grundlegend für die Argumentation von vFG ist die Ableitung von aktuellen Umweltproblemen aus dem Kapitalismus bzw. aus dem, was sie unter 'Kapitalismus' verstehen. Dagegen kann zunächst eingewandt werden, daß es nicht unbedingt von der Hand zu weisen ist - genauer: empirisch zigfach nachgewiesen ist -, dass Umweltprobleme und Ressourcenvernichtung keine Erfindung des Kapitalismus sind. Nicht nur die sozialistischen Staaten sind ein schlagender Gegenbeweis, auch in weitaus älteren Gesellschaften konnten immer wieder weitreichende Umweltveränderungen mit zum Teil katastrophalen Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Leben beobachtet werden. Wenn nun schon die antike Sklavenhaltergesellschaft oder der Feudalismus (um hier marxistische Epochenbegriffe zu verwenden) ebenso Umweltzerstörung kannten wie die staatswirtschaftlichen sozialistischen Länder, stellt sich doch die Frage, was mit der Herleitung aktueller Umweltprobleme aus der Wirtschaftsform des Kapitalismus gewonnen ist. Eventuell trägt die feinsinnige Herleitung der Umweltzerstörung aus den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus gar nichts zur Problemanalyse bei, wenn es alle anderen Wirtschaftsformen genauso machen.

2. Auch kann man wie die Autoren ohne weiteres aus der dominierenden, modellhaft definierten Wirtschaftsorganisation ('Kapitalismus') auch eine gesamte Gesellschaft, die ja nicht nur aus Ökonomie besteht, konstruieren. Dennoch könnte eingewandt werden, dass eine solche umfassende Kapitalismus-Definition - also: Kapitalismus ist das Gesamt an Ökonomie, Staat, Kunst, persönlicher Lebensbewältigung etc. - doch eine gewisse analytische Unschärfe birgt, die es den Autoren immer wieder einfach macht, zwischen Ökonomie (d.h. den dortigen Handelnden) und der Gesellschaft als Ganzer hin- und herzuwechseln, ohne dies jeweils explizit anzuzeigen, gleichzeitig aber die Analyse ins Beliebige changieren lässt. Zugleich ergibt sich dadurch und sicher im völligen Gegensatz zu den Absichten von vFG eine recht frappierende Nähe zu Ansätzen eines totalisierenden Gesellschaftsverständnisses (jedes Gesellschaftselement ist eine Rädchen, aber auch ein Repräsentant der eindeutig definierbaren Gesellschaft), wie es aktuell auch aus vielen Kultur-Konzepten bekannt ist (Clash of civilisations).

3. Im Zentrum der Kapitalismuskritik von vFG steht aber nicht der Vorwurf, dass es im Kapitalismus Umweltprobleme überhaupt gebe, sondern dass sich die Wirtschaft nicht um die Umwelt kümmere, ja sie - im Gegensatz zu den Autoren - nicht als solche wahrnehme, aufgrund des Profitstrebens auch nicht wahrnehmen könne. Diese Kritik - wir definieren, was Umwelt ist und was deren Zerstörung; ihr aber seht dies weder noch kümmert ihr euch darum - scheint aus analytischer Sicht zunächst nur etwas seltsam zu sein. Problematisch wird sie aber, wenn das implizite Gegenbild betrachtet wird: eine Wirtschaft, die nicht die natürliche Umwelt verändert oder zerstört, sondern dafür zuständig ist, sie zu erhalten, zu schonen usw. Zu überlegen wäre hier, ob dies nicht eine monströse Perspektive ist. Selbstverständlich ist dem nicht zu widersprechen, dass unternehmerisches Handeln heute (wie früher) Umwelt verändert/zerstört, wie es auch (oft negative) Auswirkungen auf das öffentliche Leben, aber auch auf private Beziehungen usw. usf. hat. Dennoch möchte man sich lieber keine Ökonomie vorstellen, die sich zuständig fühlt für die Besserung der Umweltverhältnisse, des öffentlichen Lebens, der privaten Beziehungen usw. kümmert. Denn: Man muss kein Systemtheoretiker sein, um hier das Grausen zu bekommen. Glücklicherweise gibt es andere gesellschaftliche Instanzen als die Ökonomie, die sich um Beeinträchtigungen ihrer jeweils eigenen Sphäre kümmern.

All diese Kritikpunkte an vFG sind wiederum lediglich andere Realitätsbeschreibungen als diejenige der Autoren, wie deren Auffassung von der Wirklichkeit auch nur eine andere als diejenige der Vertreter der "nachhaltigen Entwicklung" ist. Wenn nun nicht eine völlige Beliebigkeit propagiert werden soll - "Eine Meinung ist so gut wie die andere" -, braucht es Kriterien für eine Abwägung. Und diese können auf zwei Wegen erfolgen: Entweder wird klar gestellt, wofür eine bestimmte Realitätsauffassung gut ist (Welche Analyse kann durch sie befördert werden? Inwiefern ist sie im Hinblick auf das Erreichen der eigenen Ziele effektiv? Usw.). Oder aber man setzt ein eigenes normatives Konzept dagegen, was aber analytisch nicht mehr zu begründen ist, sondern nur noch moralisch.

Offensichtlich gehört der Artikel von vFG zur zweiten Kategorie. Denn der Hauptvorwurf an die Vertreter der "nachhaltigen Entwicklung" ist die Vernachlässigung bzw. Vermeidung einer Kritik an der bürgerlichen/kapitalistischen Gesellschaft - kurz: dass sie keine Marxisten sind. Nun: Das kann man vielen vorwerfen, aber warum man einer sein sollte, ist nach
diesem Artikel nicht unbedingt schlüssiger als zuvor.

 



Zu den Anmerkungen von Wolfgang Aschauer:
Abgeschickt von Bernd Belina am 10 Dezember 2001

Wolfgang Aschauer öffnet in seinen Anmerkungen verschiedene Fässer unterschiedlichen Fassungsvermögens. Kommentiert werden sollen an dieser Stelle nur derer zwei, beide von mittlerem Volumen. Vor allem seine epistemologischen Andeutungen ("Wirklichkeitsbeschreibung", "Realitätsauffassung") sollen hier nicht weiter thematisiert werden.

zu 1. (Die Nummerierung entspricht der Aschauers'): Wolfgang Aschauer verweist darauf, "dass Umweltprobleme und Ressourcenvernichtung keine Erfindung des Kapitalismus sind" – und folgert daraus, dass dann die kapitalistische Produktionsweise "nichts zur Problemanalyse bei[trägt], wenn es alle anderen Wirtschaftsweisen auch so machen"! Was ist diese ominöse "es"? Produzieren? Also durch Arbeit konkrete Natur in Gebrauchswerte umwandeln und Natur dabei notwendig verändern und mitunter auch zerstören? Na logisch, das "machen" sie alle "so", wie denn auch sonst. Aber in dieser Produktion nur und ausschließlich den Profit zum Zweck erheben? Und deshalb dem Gebrauch von Natur gleichgültig gegenüberstehen? "Machen" das "alle anderen" auch "so"? Wohl kaum. Aber eine derartige Auseinandersetzung mit verschiedenen Produktionsweisen interessiert Aschauer ja offenbar gar nicht. Denn was ist das denn für eine Art von Schluss: Weil andere Produktionsweisen "es" "auch so machen" kann "es" nicht an der kapitalistischen liegen? Da ist doch vollkommen vom Inhalt der jeweiligen Produktionsweisen abstrahiert, da wird der Zusammenhang zwischen "Produktionsweise" und "Umweltzerstörung" als
'black box' betrachtet. Anders formuliert: Was ist denn da der Maßstab des Vergleiches der verschiedenen Produktionsweisen? Offenbar die Naturzerstörung, und nicht deren Grund. Der scheint nicht zu interessieren. Denn sonst müsste man sich über diese Produktionsweisen selbst Gedanken machen. Wenn man sich andersherum diese Gedanken nicht macht, kann man natürlich messerscharf schließen, dass ein inhaltlicher Zusammenhang auch nicht vorliegt.

zu 3.: Wolfgang Aschauer liest aus dem zur Debatte stehenden Text einen "Vorwurf" heraus, d.h. also eine moralische Aussage (im Gegensatz zu einer Analyse), nach dem die Autoren Beschwerde führen, "dass sich die Wirtschaft nicht um die Umwelt kümmere". Das "Gegenbild" wäre lt. Aschauer eine Ökonomie, "die sich zuständig fühlt für die Besserung der Umweltverhältnisse" – wie kommt er darauf? Aschauer schreibt: "Man muss kein Systemtheoretiker sein, um hier das Grausen zu bekommen. Glücklicherweise gibt es andere gesellschaftliche Instanzen als die Ökonomie, die sich um Beeinträchtigungen ihrer jeweils eigenen Sphäre kümmern." Speziell Systemtheoretiker muss man
tatsächlich nicht sein, um diesem Idealismus anzuhängen, dass sich "Instanzen" um "Sphären" "kümmern" (was für ein "Glück"!). Aber von dieser normativen Überhöhung des gesellschaftlichen Status Quo einmal abgesehen: Was ist das schon wieder für ein Schluss: Wer die Naturzerstörung aus der kapitalistischen Produktionsweise ableitet, also irgendwie aus der Wirtschaft, fordert automatisch ein "Kümmern" "der Wirtschaft" um die Natur? Zunächst mal müsste es in dieser Logik doch konsequenterweise einen "Vorwurf" an den Kapitalismus (also nicht an "die Wirtschaft") setzten, einen, der sich gewaschen hat, den Bengel mal ordentlich bei den Löffeln ziehen - was vielleicht die Absurdität eines
Hineinlesens von "Vorwürfen" in eine Analyse illustrieren mag. Anders formuliert: Bei der Erklärung von Niederschlag Wolken zu erwähnen, bedeutet doch keine "Vorwurf" an die armen Wolken. Im Text von Hans-Dieter von Frieling und Eva Gelinsky kann ich keinen "Vorwurf" an "die Wirtschaft" finden, nur eine Analyse, in der notwendig "die Wirtschaft" eine Rolle spielt. Den Schluss auf die Moral (den "Vorwurf") muss man schon selbst hineinlesen - eine Übung, die in der Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit, wo jedes Interesse
zur Meinung und scheinbar jede Analyse zum Vorwurf mutiert, durchgesetzt ist und jede vernünftige Erklärung von vorneherein verhindert.