Bernard Reitel, Patricia Zander, Jean Luc Piermay und Jean-Pierre Renard (Hg.): Villes et Frontières. Paris 2002. 275 S.

Der Sammelband behandelt die Beziehungen zwischen Städten und Grenzen. Die Beiträge beschränken sich dabei nicht auf die Betrachtung von Grenzstädten und grenzüberschreitenden städtischen Agglomerationen, sondern öffnen darüber hinaus den Blick für über den eigentlichen Grenzraum hinausgreifende Einflüsse von Staatsgrenzen und damit verbundene Delokalisierungsprozesse sowie für die Herausbildung und Bedeutung von Grenzen im weiteren Sinne, z.B. von Grenzen innerhalb von Städten.

In der Einleitung führen J.-L. Piermay, B. Reitel und P. Zander die Begriffe "Stadt" und "Grenze" zusammen: Die Bedeutung von Grenzen hat sich vor dem Hintergrund des technologischen, geopolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels grundlegend verändert. Dabei spielen unter anderem die Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und moderner Transportmöglichkeiten sowie die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Globalisierung und der Machtgewinn transnationaler Unternehmen eine Rolle. Zugleich kommt es mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und den Transformationsprozessen in den ehemaligen Ostblock-Staaten sowie mit der fortschreitenden europäischen Integration zu grundlegenden geopolitischen Veränderungen. Dies führt einerseits zu einem Bedeutungsverlust von Grenzen, andererseits jedoch nehmen die Herausgeber an, dass es zugleich zu einer Bedeutungszunahme von Grenzen oder zur Herausbildung neuer Grenzen kommt. Nur vordergründig betrachtet präsentieren sich "Grenze" und "Stadt" als gegensätzlich, denn beide Konzepte weisen Ambivalenzen auf, die diese Gegensätzlichkeit brechen: So stehen Grenzen nicht nur für Barrieren, Abgeschlossenheit, Kontrolle und z.T. für Konflikte, sondern vor dem Hintergrund der europäischen Integration zugleich für Öffnung und für eine Fülle neuer Möglichkeiten. Die Städte - Symbole für Interaktion und Austausch, für eine Vielfalt an Möglichkeiten und Freiheiten - wiederum sind heute von sozioökonomischen Prozessen geprägt, die mit zunehmenden sozialen Disparitäten, wachsender Armut, sozialen Schließungsprozessen und einem wachsenden Konfliktpotenzial einhergehen. Die Untersuchung der komplexen Beziehungen zwischen Städten und Grenzen ist in drei Abschnitte gegliedert: Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich mit Städten in Grenzlagen und grenzüberschreitenden städtischen Agglomerationen und den damit verbundenen Strukturen und Prozessen. Im ersten Kapitel sind mit Beiträgen zu Beirut (M. Ababsa), Bratislava (F.-O. Seys), zu den deutschpolnischen Städte Görlitz/Zgorzelec, Guben/Gubin und Frankfurt an der Oder/Slubice (B. Kostrubiec u. J. Loboda), zur Agglomeration Saarbrücken/Moselle- Est (C. Schulz) sowie zu Pondicherry in Indien (F. Pesneaud) Fallbeispiele versammelt, in denen sich an eine Phase in der Vergangenheit, in der die Grenze mit Konflikten behaftet war, eine Öffnung und eine bis heute andauernde Phase der Stabilität anschließt. Das zweite Kapitel betrachtet Städte an bereits über einen sehr langen Zeitraum "befriedeten" Grenzen, über die hinweg schon seit langer Zeit ein Austausch stattfindet. Während in den übrigen Kapiteln des Sammelbandes auch Städte außerhalb Europas berücksichtigt werden, konzentriert sich Kapitel II mit Beiträgen zu kleineren Städten im französisch-schweizerischen Jura (A. Moine) sowie zu den grenzüberschreitenden Agglomerationen Basel (B. Reitel), Lille (S. Letniowsak- Swiat) und Genf (F. Moullé) ganz auf Städte in der Nähe der Grenzen zwischen Frankreich und seinen Nachbarstaaten. Die Beiträge im dritten Kapitel untersuchen die Interaktionen verschiedener Akteure mit den Grenzen und die Strategien, die diese im Umgang mit der Grenze, mit den Eigenheiten und Möglichkeiten der Grenzlage vor dem Hintergrund der jeweiligen rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entwickeln. Die Beiträge betrachten im einzelnen die grenzüberschreitende Mobilität von Patienten und Fachärzten an Côte d'Azur und italienischer Riviera (C. Voiron-Canicio), die Entwicklung von Handelsaktivitäten und Märkten im Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Handel in Äquatorial-Guinea, Gabun, Kamerun, Nigeria, im Tschad und in der Zentralafrikanischen Republik (K. Bennafla), die institutionelle Organisation der Rheinhäfen von Straßburg und Kehl (P. Zander) sowie Entwicklungsprozesse in der "grenzüberschreitenden Hafenstadt" Cherbourg (P. Buléon). Das vierte Kapitel handelt von der Herausbildung neuer Grenzen, die zumindest teilweise nicht im klassischen Sinne, das heißt als Grenzen zwischen Nationalstaaten verstanden werden. Hierzu gehören Beiträge zur Entstehung der französischniederländischen Grenze im 17. und 18. Jh. (C. Denys), zur Konstitution neuer, grenzüberschreitender institutioneller Formen und Strategien einer urban governance am Beispiel der grenzüberschreitenden Agglomerationen Lille, Liège und Anvers (P. Ginet), zur Ausbildung räumlicher Grenzen innerhalb des städtischen Raumes im Zuge der wachsenden Bedeutung unterschiedlicher nächtlicher Aktivitäten am Beispiel Straßburgs (L. Gwiazdzinski), zur "Stadtwerdung" der europäischen Grenzen im Zuge von europäischer Integration, Globalisierung und Fortschritten im Transport- und Kommunikationswesen (C. Arbaret-Schulz) und zur Herausbildung neuer Grenzen in den Städten Afrikas südlich der Sahara, die aus den Strategien der Aneignung städtischer Teilräume durch unterschiedliche gesellschaftliche und soziale Gruppen resultieren (J.-L. Piermay). Die Vielfalt der Beiträge belegt ein weites Spektrum von Beziehungen zwischen Städten und Grenzen. Über die "klassische" Betrachtung von Grenzstädten und grenzüberschreitenden Agglomerationen hinaus, die auch in der deutschsprachigen Forschung seit längerem beheimatet ist und der die ersten beiden Kapitel und damit die Hälfte aller Beiträge gewidmet sind, öffnen einige der Beiträge den Blick für die "Delokalisierung" von Grenzen und für die Entstehung neuer Grenzen, die sich etwa innerhalb der Städte herausbilden. Grundsätzlich werden Grenzen dabei als politische Konstrukte verstanden, die aus der Konfrontation von Mächten oder Akteursgruppen heraus entstehen, woraus sowohl Konflikte als auch Kompromisse resultieren können. So betrachtet lässt sich der Begriff nicht auf die zwei Staaten trennenden Grenzlinien reduzieren. Die Definition dieser "neuen" Grenzen bleibt innerhalb einiger Beiträge allerdings sehr vage. Insgesamt erscheint der vorliegende Sammelband recht heterogen, sowohl in Bezug auf die Thematik der einzelnen Beiträge (zum Beispiel im vierten Kapitel) als auch im Hinblick auf die räumliche Auswahl der Fallbeispiele: So ist zum einen eine Konzentration auf Frankreich und die angrenzenden Räume festzustellen, zum anderen ist die Auswahl von Beispielen aus außereuropäischen Räumen mehr oder minder beliebig (überwiegend Beispiele aus ehemaligen französischen Kolonien). Nichtsdestotrotz bereichert der vorliegende Sammelband die wissenschaftliche Diskussion im Bereich eines sehr aktuellen Themas, in dem er vorhandene struktur-, aber auch akteursorientierte Forschungsperspektiven zu grenzüberschreitenden Räumen aufgreift und einige neue Fragestellungen eröffnet.
Autorin: Susanne Albrecht

Quelle: Geographische Zeitschrift, 92. Jahrgang, 2004, Heft 4, Seite 243-244