Edgar Wunder: Religion in der postkonfessionellen Gesellschaft. Ein Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung in der Religionsgeographie. Stuttgart 2005 (Sozialgeographische Bibliothek 5). 366 S.

Die vorliegende Schrift, die als Heidelberger Dissertation bei PETER MEUSBURGER entstand, steckt sich ein anspruchsvolles Ziel: Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Definition von Religion und den Veränderungen, denen diese Religion in der Moderne unterliegt, soll ein phänomenologisch basierter Ansatz für eine Religionsgeographie der Gegenwart entwickelt werden, der der Entkonfessionalisierung großer Bevölkerungsteile Rechnung trägt. Auf den Grundbegriffen Religion, Moderne und Säkularisierung baut der Autor sein Gedankengebäude auf.

Über die Skizze eines Forschungsprogramms soll dieser Ansatz empirisch auf seine Tragfähigkeit überprüft werden. Dabei ist Religionsgeographie für den Autor nicht einfach eine Teildisziplin der Geographie, sondern eine integrative Wissenschaft im Überschneidungsbereich zwischen Geographie, Soziologie und Religionswissenschaft. - Die Definition von ‚Religion' wird aus einer kritischen Analyse eines Merkmalkatalogs gewonnen, der sich aus einer soziologischen Perspektive ergibt. Religion wird (abgekürzt) verstanden als persistentes Symbolsystem, aus dem lebenspraktisch relevante Erscheinungen abgeleitet werden und das über eine Kosmisierung der Welt der Identitätsstiftung dient. Eine Definition über den Glauben und damit eine spirituelle Begründung werden im Hinblick auf die religiöse Gegenwartskultur vermieden, um einen sehr weit gefassten Begriff festzulegen, der der individuellen Lebensführung zugrunde liegen kann. Um die Anwendung in der Gegenwart zu ermöglichen, muss in einem zweiten Zugang der Begriff ‚Moderne' definiert werden. Auch dies geschieht soziologisch: WUNDER fasst die Moderne als ein "multidimensionales Raster soziologischer Theoreme" (S. 67) auf und gewinnt daraus die Begründung für die Veränderung von Religion in der Gegenwart durch Säkularisierungsvorgänge. Zu ihnen gehören Autonomisierung, Privatisierung, Individualisierung, Subjektivierung. Zudem tritt Erfahrung an die Stelle des Glaubens, und mit der Entethisierung kann die moderne Religion auch ihren moralischen Anspruch verlieren. Mit diesem begrifflichen Hintergrund gelingt es, eine große Zahl sozialer Erscheinungen als ‚Religion' zu begreifen. Für die postkonfessionelle Gesellschaft, die der Verfasser als Merkmal der Gegenwart feststellt, wird eine Diversifizierung der Säkularisierungspfade abgeleitet; auf dieser Basis eine besondere Kompetenz von Geographen für die Analyse zu postulieren (S. 147), erscheint allerdings etwas weit hergeholt. Hilfreich und weiterführend ist dagegen die Unterscheidung von Sozialformen von Religion, weil dadurch zugleich unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Integration und Integrierbarkeit angesprochen sind. Um zu einer Abgrenzung von Religionsgeographie vor diesem entwicklungshistorischen und phänomenologischen Rahmen zu gelangen, werden zunächst unterschiedliche Raumkonzepte vorgestellt und die Beziehungen zwischen Geographie, Soziologie und Religionswissenschaft erörtert, wobei der Entwicklung der Sozialgeographie und der Neuen Kulturgeographie besonderes Augenmerk gilt. Die Auseinandersetzung mit bisherigen religionsgeographischen Ansätzen dient dazu, Defizite aufzuzeigen, die das eigene Forschungsprogramm überwinden soll, welches auf einem Säkularisierungsmodell beruht. Am Beispiel von drei der 24 Komponenten dieses Modells wird eine empirische Überprüfung vorgenommen, die sich dem kritischen Rationalismus verpflichtet fühlt und quantitativ vorgeht. Im Mittelpunkt stehen der Zusammenhang zwischen Pluralisierung der Gesellschaft und Entkonfessionalisierung sowie die Astrologie. WUNDER kann dabei die Tragfähigkeit des Säkularisierungsmodells gegenüber einem religionsökonomischen Ansatz nachweisen. - Die Arbeit ist nicht leicht zu lesen, obwohl Kapitelzusammenfassungen es erleichtern, dem Gedankengang zu folgen; sie will anspruchsvoll sein und belegt eine beachtliche Belesenheit des Autors. Wer sich mit Fragen im weiteren Feld räumlicher Erscheinungen von Religion befasst, wird an einer gründlichen Lektüre und Auseinandersetzung nicht vorbeikommen. Man wünscht sich zudem eine Rezeption jenseits der geographischen Fachwissenschaft, insbesondere bei der Soziologie und der Religionswissenschaft.  
 Autor: Jörg Stadelbauer

Quelle: Erdkunde, 61. Jahrgang, 2007, Heft 1, S. 120-121