Wolfgang Aschauer: Theorie und Elend

Anmerkungen zu:
[1] Pascal Goeke, Roland Lippuner, Johannes Wirths (Hg.) 2015: Konstruktion und Kontrolle. Zur Raumordnung sozialer Systeme. Wiesbaden: Springer. 347 S.
[2] Helmut Klüter 2014: Konstruktionen ohne Kontrolle?
[3] Roland Lippuner, Johannes Wirths und Pascal Goeke 2015: Das Anthropozän – eine epistemische Herausforderung für die spätmoderne Sozialgeographie

Eigentlich sollte ich enttäuscht sein. Üblicherweise resultieren Enttäuschungen aus Erwartungen, die sich nicht erfüllen (etwa: zu geringe Gehaltserhöhung, gebrochene Wahlversprechen, schlechter Sex usw.); manchmal treten Enttäuschungen aber auch dann auf, wenn man sich eines Sachverhalts sehr sicher ist, dann aber lernen muss, dass dieser offensichtlich nicht zutrifft. So ging es mir zunächst auch bei der Lektüre des vorliegenden Sammelbandes [1], weil er mir mitzuteilen schien, dass der Kernbestand dessen, was ich an der Systemtheorie Luhmannscher Prägung verstanden zu haben glaubte, unsinnig und unzeitgemäß ist. Es ist auf alle Fälle nicht zu übersehen, dass die Stellungnahme der Herausgeber [3] den (vorläufigen) Endpunkt einer Diskursverschiebung markiert, die für mich so nicht absehbar war.

 Ich hatte vor einigen Jahren die Möglichkeit und auch das Vergnügen, einem Treffen der Arbeitsgruppe, aus deren Diskussionszusammenhängen die Beiträge des genannten Bandes stammen, beizuwohnen. Bei allen Gesprächen, die ich dort führte, blieb mir jedoch eines unklar: weshalb sich die Teilnehmer mit der Systemtheorie, die damals im Focus des Interesses der Gruppe stand, beschäftigten. Es gibt wohl im wesentlichen zwei Gründe, warum sich jemand einer Theorie zuwendet, nämlich organisationsbezogene und erkenntnisorientierte. Zum ersteren Bereich ist vor allem zu zählen, dass eine bestimmte Theorie „hip“ ist, also vor allem dem eigenen Fortkommen innerhalb der Wissenschaft dienen kann; da die meisten Teilnehmer aber nicht durch Zauselbärte oder selbstgestrickte Mützen auffällig waren, schloss ich Hipstertum als Motiv aus.

Zum zweiten Komplex gehört, dass eine Theorie als besonders dafür geeignet angesehen wird, bisher wissenschaftlich wenig oder unbefriedigend erforschte Sachverhalte erklären zu können, oder aber dass ihre Begrifflichkeit und Theoriemechanik gut mit interessierenden Fragestellungen korrespondiert. Entsprechende Vermutungen konnte ich jedoch in meinen Gesprächen nicht bestätigt finden. Lediglich ein Punkt war sehr auffällig: der permanente und letztlich scheiternde Versuch, vom eingeladenen Gastvortragenden Armin Nassehi Stellungnahmen zur Rolle des „Raums“ in der Gesellschaft zu erhalten. Was mir wie das Ansinnen vorkam, von einem Biologen Informationen zur Physiologie eines Engels zu erhalten, interpretierte ich als Ausdruck einer tief verwurzelten und der Sozialisation in der Geographie geschuldeten Obsession, die bei ausdauernder Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen (hier: mit der Systemtheorie) auch überwunden werden kann.

Damals schon hätte mich aber der Umstand stutzig machen müssen, dass versucht wurde, die Systemtheorie für die als solche angenommene Grundperspektive der Geographie, den „Raum“, nutzbar zu machen, d. h. die Institution Geographie und ihr Basistheorem durch einen Theorieimport zu verbessern, ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, ob dieses Vorhaben sinnvoll ist. Genauer gesagt: Das Vorhaben ist – wenn man denn keine konkreten Sachverhalte betrachtet – nur aus organisationssoziologischer Sicht sinnvoll, was das gesamte Unternehmen doch eher dem ersten der angeführten Gründe für die Wahl einer Theorie zuordnen lässt.

Vielleicht war das auch die wesentliche Ursache dafür, dass ich meine eigene Motivation für die Beschäftigung mit der Luhmannschen Systemtheorie nicht so recht wiederfinden konnte. Was mich an ihr reizte und bis heute reizt, ist die ausgefeilte Theoriemechanik und – damit zusammenhängend – die elaborierte Sprache. Es wurde an vielen Stellen, so auch in der Einleitung des Bandes [1] (S. 17) und in dessen Rezension durch Helmut Klüter [2], darauf hingewiesen, dass Luhmanns Theoriebildung stark an der Kybernetik orientiert ist. Mir scheint eine andere Verwandtschaft noch wichtiger zu sein, und zwar die Nähe zur Mathematik, genauer: zu ihrer umfassenden Neukonzeption auf der Grundlage weniger Axiome, wie sie im Jahr 1900 von David Hilbert als Arbeitsprogramm verkündet wurde. Einfache Festlegungen sollten es bei ausschließlicher Anwendung von Logik ermöglichen, das gesamte Gebäude der Mathematik aufzubauen und einzelne Teildisziplinen und -fragestellungen ineinander zu überführen. Obwohl Bertrand Russell und Kurt Gödel nachwiesen, dass die Widerspruchsfreiheit von Axiomen mit den Möglichkeiten der Logik nicht bewiesen und damit das gesamte Unterfangen nicht wie beabsichtigt durchgeführt werden kann, gründet die moderne Mathematik weiterhin auf dem Projekt der Vereinheitlichung (wie parallel dazu auch in der Physik). Dies hat zwei fundamentale Konsequenzen: die strukturelle und sprachliche Redundanz und die hermetische Gesamtkonzeption.

Beides sind Vorwürfe, die auch gegenüber Luhmann und seinem Projekt der „großen“ Gesellschaftstheorie (exemplarisch in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, 1997) geäußert wurden – und das auch völlig zurecht. Aufbauend auf simplen Grundbegriffen wie „Kommunikation“ oder „Funktion“ entfaltet die Systemtheorie ein Tableau von sich gegenseitig erklärenden Theorieelementen, die mittels einer hochartifiziellen Sprache miteinander verknüpft werden und Realitätsbeschreibungen rigoros in die Theoriemechanik überführen. Anders als andere „Großtheorien“ wie etwa der Marxismus sieht die Systemtheorie von jeder Vorab-Nennung von Faktoren für gesellschaftliche Entwicklungen ab, sondern versucht, Wirkmechanismen zu identifizieren und in der Theoriesprache zu vereinheitlichen. Diese erkenntnistheoretische Neutralität der Theoriekonstruktion hat der Systemtheorie auch den Vorwurf des weltanschaulichen Konservativismus eingebracht. Nun kann man von der epistemologischen Redundanz der Systemtheorie ebenso überfordert wie von der hermetischen Sprachnutzung abgestoßen sein; zwei Reaktionsweisen sind hingegen völlig unangemessen, wenn man überhaupt noch einen Bezug zu dieser Theorie herstellen will.

Zum einen ist der Versuch zu nennen, die Systemtheorie mit Theorieansätzen zu verbinden, die schon auf der axiomatischen Ebene keinerlei Anschlussfähigkeit aufweisen. In das systemtheoretische Axiom, dass soziale Systeme aus Kommunikationen bestehen und nur Kommunikationen kommunizieren können, sind etwa physische Entitäten nur als Kommunikationsgegenstand, nicht aber als Sender oder Empfänger von Mitteilungen integrierbar. Genehme Theorieschnipsel zusammenzusuchen und das als Normalverfahren von Wissenschaft zu bezeichnen – Lippuner/Wirths/Goeke [3] schreiben, dass „Theorien notorisch Reisende sind ..., ein gewisser Eklektizismus dabei die Regel ist und keineswegs unproduktiv oder unangemessen sein muss“ – wirft einerseits ein grelles Licht auf die offenbar als selbstverständlich angenommene Form der Theoriearbeit mancher Wissenschaften, ist aber andererseits eine durchaus gegebene Möglichkeit, solange die Quell-Theorien eher unterkomplex sind. Für die Systemtheorie ist das ausgeschlossen, ähnelte ein solches Verfahren – um die obige Parallelsetzung wieder aufzugreifen – dem Versuch, eine hochkomplizierte mathematische Formel mit Emoticons anzureichern, um sie besser nutzen und populariseren zu können. Es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass solch ein Verfahren beiden Seiten nicht gerecht wird.

Der andere hier zu erwähnende Aspekt ist die Kritik der Herausgeber an der Systemtheorie und ihrer „Raumlosigkeit“, zumindest letzteres sei ein Echo der „Spätmoderne“ und damit der 1980er/90er Jahre; heute aber, da wir (!) im „Anthropozän“ [1, 3] leben, müsse eine andere Herangehensweise, und das heißt ein Einbezug von Dingen, Organismen und „Räumen“ in sozialwissenschaftliche Theorie geleistet werden. Sozialwissenschaftliche Theoriebildung wie anno dunnemals, also zu Zeiten Luhmanns, zu betreiben, sei „einigermaßen weltfremd“ [3]. Nur die neue theoretische Ausrichtung könne die Abhängigkeit der Gesellschaft von ihrem „dichtbesiedelten Außen“ zeigen und erklären. Letzterer Ausdruck, der offensichtlich die theoretisch kaum fassbare „(natürliche) Umwelt“ o. ä. durch einen Begriff überhöhen will, der noch unpräziser und noch weniger theoretisierbar ist, scheint den Herausgebern ausnehmend gut zu gefallen; im Diskussionsbeitrag [3] findet er sich gleich zweimal wieder (ohne das „dichtbesiedelte“ noch häufiger).

Wohl nicht ganz zufällig taucht der Begriff auch an einer zentralen Stelle des Sammelbandes [1] auf, die – abweichend von Klüters Monitum, dem Band fehle ein Resümee [2] – als Zusammenfassung der Beiträge angesehen werden kann. Es handelt sich um folgende Passage aus der Danksagung, in der die Herausgeber begründen, weshalb sie und die übrigen Autoren die – ursprünglich geplante – enge Ausrichtung an Luhmanns theoretischer Position aufgegeben haben: „Für die vielfältigen Impulse zu dieser Denkbewegung [weg von einer engen Anbindung an Luhmann hin zur neuen, hybriden Perspektive; W.A.] müssen wir vielleicht zuerst dem isländischen Vulkan Eyjafjallajökull danken. Seine Aschepartikel führten im April 2010 zu der Entscheidung, den Flugverkehr in der nördlichen Hemisphäre zu unterbrechen, sodass einigen Netzwerkmitgliedern die materiell-technische Basis für die Anreise zum ersten Arbeitstreffen entzogen wurde. So ärgerlich das war, retrospektiv setzte der Eyjafjallajökull ein Fanal im wörtlichen und übertragenen Sinn für die Arbeiten der letzten Jahre, führte er uns doch die Abhängigkeit der Gesellschaft von ihrem vielbesiedelten Außen in aller Deutlichkeit vor.“ (S. 5 f.).

Ungeplante, unvorhergesehene Ereignisse haben tatsächlich schon öfters gravierende wissenschaftliche oder politische Umorientierungen hervorgerufen oder zumindest gefördert. So wird das große Erdbeben von Lissabon 1755 als Wieder-Auslöser der Theodizee-Debatte und damit letztlich der Aufklärung angesehen, und die deutsche Energiewende kann man nicht ganz zu Unrecht auch auf die Ereignisse von Fukushima zurückführen. Diese und andere Beispiele können (auch) systemtheoretisch gut interpretiert werden; wissenschaftlich-philosophische Kommunikationszusammenhänge haben das Erdbeben in ihre Funktionslogik übersetzt und daraus entsprechende Konsequenzen gezogen, und die Organisation deutscher Nationalstaat war ebenfalls ohne weiteres in der Lage, ein ihm externes Ereignis zum Anlass politischen Handelns zu nehmen. Zugleich zeigt sich aber auch, dass kein notwendiger Zusammenhang zwischen Ereignis und Akteurshandeln besteht; denn die angeführten und unzählige weitere Katastrophen oder sonstige Geschehnisse führten nur bei denjenigen Organisationen oder Einzelpersonen zu Reaktionen, bei denen das der Fall war. In der überwältigenden Mehrheit der Fälle bewegt das „vielbesiedelte Außen“ einer Gesellschaft gar nichts.

Nicht zuletzt werden einzelne Ereignisse von unterschiedlichen Akteuren auf ganz unterschiedliche Art und Weise zur Begründung von Handlungen verwendet; im Fall des im Zitat erwähnten Vulkanausbruchs zeugen die Diskussionen um Umfang und Dauer des Flugverbots davon, dass etwa einzelne Staaten, die zuständigen Behörden der Flugsicherung und die Fluggesellschaften das Naturereignis in deutlich divergierende Bewertungen und Handlungsperspektiven übersetzten. Diese Auseinandersetzungen konnten und können daher nur adäquat verstanden werden, wenn die Funktionslogik der beteiligten Organisationen betrachtet wird. Das Ereignis selbst erklärt nichts. Um es mit einem aktuellen Beispiel noch einmal zu verdeutlichen: Ein toter Junge am Strand von Bodrum kann bei Personen und Organisationen, die entsprechend prädisponiert sind, die Reaktion auslösen, die Zielsetzung einer Festung Europa zu hinterfragen oder gar durch praktisches Handeln zu konterkarieren. Dasselbe Ereignis kann bei anderen Akteuren aber auch den dünnen Firnis von Zivilisation zum Verschwinden bringen und Verachtung und Tötungsfantasien auslösen. Bei den meisten Menschen hat ein solches Ereignis aber nur einen Effekt – es geht ihnen völlig am Allerwertesten vorbei (was man nicht zuletzt an der Aufnahmebereitschaft in den meisten europäischen Ländern erkennen kann).

Allgemein gefasst, liegt es grundsätzlich an Organisationen und anderen Kommunikationszusammenhängen, ob und gegebenenfalls wie aus Ereignissen Handlungen gesellschaftlicher Akteure werden. Das ist so selbstverständlich, dass es nachgerade rätselhaft ist, dass im vorliegenden Band [1] Dinge, „Materialitäten“ oder sogar der Geographen liebste Phantasmagorie – „Räume“ – zu quasi eigenständigen Akteuren werden, die gesellschaftliche Entwicklungen hervorrufen oder zumindest entscheidend beeinflussen. Dieser Zugang insbesondere in den Abschnitten III und IV des Bandes ist jedoch keine Neuerfindung der Autoren, sondern basiert auf Zugängen wie der „Akteur-Netzwerk-Theorie“, dem „sozialkonstruktivistisch“ aufgeladenen Wiedergänger des altehrwürdigen Possibilismus, dieser Schmuse-Version einer noch älteren und ehrwürdigeren geographischen Denkfigur – des Geodeterminismus. Auf die in dieser Hinsicht besonders eklatanten Beiträge muss an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden; Helmut Klüter hat dies in seiner umfangreichen Besprechung [2] ausführlich und abschließend unternommen.

Weitaus weniger hilfreich erscheinen dagegen Klüters Anmerkungen, die Autoren könnten in seinen eigenen Veröffentlichungen Hinweise darauf finden, wie der systemtheoretische Ansatz auch in der Geographie fruchtbar gemacht werden könne [2]. Denn darum geht es den Autoren gar nicht (mehr). Im Anthropozän gibt es ja für einen solchen Ansatz keine sinnvolle Anwendung. Wollte man das etwas spitz kommentieren, könnte man hinzufügen, dass die Neuerfindung einer den geologischen Erdzeitaltern nachgebildeten Epoche anscheinend viel tumbes Gestein zu Tage bringt. Aber das ist hier nicht weiter von Bedeutung. Vielmehr zeitigt der Versuch, eine wissenschaftliche Umorientierung als direkte Ausrichtung an den Zeitläuften zu definieren und damit zu immunisieren, genau jenes zirkuläre Denkmodell, für das die geographische Landschafts- und Länderkunde seit Alters her bekannt und auch beliebt ist. Mit Systemtheorie hat all das – auch wenn der Untertitel des Bandes [1] anderes anzukündigen scheint – nichts zu tun. Es besteht also zumindest für mich auch kein Grund, enttäuscht zu sein.

Zitierweise:
Wolfgang Aschauer 2015: Theorie und Elend. In: http://www.raumnachrichten.de/diskussionen/1999-wolfgang-aschauer-theorie-und-elend

 

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