Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen, Jochen Oltmer (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn 2007. 1156 S.

Gegliedert ist das umfangreiche Nachschlagewerk nach Ländern und Migrationsgruppen. Die 17 Überblicksbeiträge über Migration nach Europa umfassen die Großregionen und Staaten der heutigen Europäischen Union sowie Osteuropas. Nicht behandelt werden europäische Auswanderungen in andere Teile der Welt, allenfalls werden ihre Wanderungsstrukturen benannt.

Die rund 200 Migrationsgruppen reichen von den ägyptischen Sans-Papiers im zeitgenössischen Paris über irische Weinbrandhändler in der Charente sowie münsterländische Wanderhändler im 18. Jahrhundert bis zu Zwangsarbeitskräften in Deutschland und im von Deutschland besetzten Europa. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt konzeptuell in der historischen Migrationsforschung, nicht in
der zeitgenössischen Migration. Dabei dominieren Beiträge zu Migration in/aus Deutschland und den Niederlanden den Band ein wenig. Beides ist auf den deutsch-niederländischen Herausgeberkreis von vier Migrationshistorikern zurückzuführen.

Eingeleitet wird das Buch durch zwei Beiträge zur Konzeption und zur Klärung und Problematisierung migrationtheoretischer Begriffe und Konzepte. Die Enzyklopädie lässt sich durch ein strukturiertes Inhaltsverzeichnis (Ausgangsraum, Berufsgruppe/Migrationstyp,
Zielgebiet und Zeit) sowie durch zwei Indizes (Wanderungsformen, Länder/Regionen/Orte) gut erschließen. Unter den Beiträgen finden sich zudem Verweise zu benachbarten Schlagworten. Diese Struktur ist durchdacht und übersichtlich. Anderseits hat sie den Nachteil, dass gemeinsame Strukturelemente der Migrationen, Kategorien wie länder- und gruppenübergreifende Migrationsregime und transnationale Prozesse nicht behandelt werden. Der konzeptionelle Eingangsartikel versucht dieses Defi zit durch Abschnitte zu Migrationsregimen, Wanderungssystemen und zur Eingliederung aufzufangen, allerdings wäre eine eigene Systematik dieser übergreifenden Aspekte – auch im Sinne eines theoretisch-konzeptionellen Erkenntnisgewinns – wünschenswert gewesen.

Um einen Eindruck vom Charakter der Beiträge und der Komposition der Enzyklopädie zu geben, gehe ich im Folgenden auf einen quer liegenden Aspekt ein, nämlich irreguläre Migration, der sich etwa zehn Beiträge widmen. Die AutorInnen präsentieren zum Teil sehr detaillierte Ergebnisse ihrer ethnographischen und historischen Studien, so beschreibt der Beitrag zu den ägyptischen Sans-Papiers in Paris von Detlef Müller-Mahn die Wanderungsmotive, sozialen Netzwerke und Migrationsbedingungen einer Personengruppe aus einem Dorf im zentralen Nildelta. Der Artikel über die marokkanischen irreguläre Migration nach Spanien seit dem Ende des 20. Jahrhunderts (Mohand Tilmatine) hingegen geht abstrakter auf die Migrationsprozesse und die politischen
Reaktionen im Herkunfts- und Zielland ein. Noch expliziter thematisiert Rutvica Andrijasevic in der Darstellung der ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Migration von Prostituierten seit den 1980er Jahren die politischen Diskurse und das Zusammenspiel von repressiver Migrationspolitik und der Zunahmen irregulärer Einwanderung. Zu den wenigen Beiträgen, die sich mit der Migration von Frauen befassen, gehört die Analyse von Felicitas Hillmann über Peruanerinnen und ihr von (irregulärer) Kettenmigration geprägtes Migrationssystem im zeitgenössischen Italien.

Dass irreguläre Migration nicht erst ein Phänomen der letzten zwanzig Jahre ist, zeigt die Beschäftigung mit der portugiesischen Arbeitsmigration seit den 1950er Jahren (Marcelo J.Borges). Während in Westeuropa eine restriktive Immigrationspolitik viele PortugiesInnen illegalisierte, begrenzte Portugal die legale Auswanderung, um möglichst hohe Rücküberweisungen zu begünstigen und die Abwanderung von SpezialistInnen zu verhindern.

Die Beiträge zur irregulären Migration gehen leider nicht weiter in die Vergangenheit zurück und lassen die Frage offen, seit wann und wie MigrantInnen zu irregulären MigrantInnen wurden. Auch die Geschichte von Grenzen, Grenzkontrollen und die Einführung von Pässen, die allesamt MigrantInnen potenziell zu irregulären MigrantInnen machen, findet keine Erwähnung. Die Aussparung dieser Punkte ist der Konzeption der Enzyklopädie mit dem Ordnungskriterium Gruppen geschuldet. Nichtsdestotrotz bietet das Werk einen sehr zu empfehlenden reichhaltigen Wissensfundus, der bislang so komprimiert nicht an einem Ort zu finden war. Eine englische Ausgabe der Enzyklopädie erscheint 2011 bei Cambridge University Press.
Helen Schwenken

Quelle: Peripherie, 30. Jahrgang, 2010, Heft 120, S. 523-524

 

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