David Harvey: Rebellische Städte

Daniel Arnold: Deutschland bauen

Claus-C. Wiegandt: Stadtentwicklung zwischen Rebellion und Aushandlung

David Harvey: Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution. Berlin 2013 (= edition suhrkamp 2657). 283 S.
Daniel Arnold (Hg.): Wir bauen Deutschland. Berlin 2013. 272 S.

Zwei Wochen Sommerurlaub im schönen Burgund – kein PC, kein Internet, keine e-mails. Aber zwei jüngst erschienene Fachbücher haben doch den Weg in mein Reisegepäck ge­funden. Zwei Werke, wie sie auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein können. Bei genauerem Lesen stellt sich jedoch heraus, dass sich interessante Bezüge zwischen ihnen herstellen lassen.


 
Zum ersten handelt es sich um die deutsche Übersetzung des Buches „Rebel Cities. From the Right to the City to the Urban Revolution“, das der renommierte US-amerikanische Geograph David Harvey im Jahr 2012 verfasst hat. Ein Jahr später ist die deutsche Fassung in der traditionsreichen Reihe „edition suhrkamp“ als Taschenbuch erschienen. Jedes Jahr werden dort seit inzwischen 50 Jahren 48 Bände aus dem wissenschaftstheoretischen und literarischen Kontext in den 48 unterschiedlichen Farben des Sonnenspektrums herausgegeben. Ob es Absicht oder Zufall ist, dass die „Rebellischen Städte“ im knalligen Rot erscheinen, kann hier nicht geklärt werden. Klar ist jedoch, dass es im Themenbereich der Stadt bisher nur einige Stadtsoziologen und noch keine Geographen geschafft haben, ihre Erkenntnisse in dieser geschätzten Reihe darzulegen.

Zum zweiten gehörte das Buch „Wir bauen Deutschland“ zu meiner Reiseliteratur, das Daniel Arnold in diesem Jahr herausgegeben hat. Dabei handelt es sich um ein gebundenes und von der Anmutung hochwertiges Buch, das im Jovis-Verlag erschienen ist. 40 Entscheider der Stadtentwicklung in Deutschland werden in ihrem beruflichen Alltag porträtiert. Dies geschieht in Form von Interviews mit Bürgermeistern und Stadtbaurätinnen, mit Senatoren und Amtsleiterinnen, die alle in leitender Funktion in den 40 verschiedenen kommunalen Stadtverwaltungen tätig sind. Der Publizist Jeremy Gaines und der Journalist Stefan Jäger haben die Interviews mit ihnen geführt, Albrecht Fuchs hat die Personen fotografiert. Das anspruchsvoll gestaltete Buch glänzt durch diese Fotos, die dem Leser einen Einblick in die Amtsstuben der jeweiligen Kommunalverwaltungen geben. Eine Deutschland-Karte zeigt die Verteilung der 40 Städte, die berücksichtigt wurden. Die Millionenstädte Berlin, Hamburg, München und Köln sind ebenso dabei wie eher unbekannte kleinere Städte – etwa Eppelheim, Kelsterbach oder Wittenberg. Ergänzt werden die 40 Gespräche durch einige kurze einleitende Beiträge zur Stadtentwicklungspolitik in Deutschland. Peter Conradi, langjähriges SPD-Mitglied des Bundestag und ehemaliger Präsident der Bundesarchitektenkammer, Werner Durth, vielfach ausgezeichneter Architekturhistoriker und Hochschullehrer aus Darmstadt, sowie Peter Götz, seit über 20 Jahren für die CDU im Deutschen Bundestag, haben hier zur Feder gegriffen.

Zurück jedoch zu den rebellischen Städten. In diesem 280 Seiten umfassenden Buch werden alle Erwartungen an eine engagierte Streitschrift aus einer neomarxistischen Perspektive erfüllt. So wird immer wieder die „zügellose kapitalistische Entwicklung“ für die Zerstörung der traditionellen Stadt verantwortlich gemacht, weil sie dem „endlosen Bedürfnis, überakkumuliertes Kapital zu investieren, zum Opfer gefallen“ sei. Dadurch würden wir uns auf ein „endlos wucherndes urbanes Wachstum zubewegen, das keine Rücksicht auf die sozialen, ökologischen oder politischen Konsequenzen nimmt“ (S. 9f.). In die­sem Duktus sind einige Passagen des Buches geschrieben, was Leser aus dem marxistischen Lager sicherlich nicht stören wird, was andere Leser aber auch abschrecken und bei einigen eine ernsthafte Rezeption erschweren wird. Es wird zunächst die Städtebaugeschichte des 19. Jahrhunderts etwa mit dem Umbau von Paris durch Georges-Eugène Haussmann nahtlos mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und dem Bau der Stadtautobahnen in New York durch Robert Moses verbunden. Mit dem „Widerstand der Achtund­sechziger-Bewegung gegen die brutale Macht der Enteignungen“ ist es nach Harvey schließlich „zu einem viel hinterhältigeren, geschwürartig wuchernden Transformationsprozess durch fiskalische Disziplinierung demokratischer städtischer Regierung“ gekommen (S. 50). Wenig überraschend ist es, dass sich solche Einschätzungen bei den 40 Entscheidern aus dem kommunalen Kontext in dem zweiten Buch „Wir bauen Deutschland“ nicht einmal ansatzweise finden. Schon hier zeigt sich deutlich die sehr unterschiedliche Bewertung von Stadtentwicklungsprozessen zwischen dem neomarxistischen Wissenschaft­ler auf der einen Seite und den Praktikern des deutschen Städtebaus auf der anderen Seite.

Eine zentrale Botschaft des Buches „Rebellische Städte“ ist, dass die Geschichte des Kapitalismus eng mit den Mechanismen des Immobilienmarktes verbunden ist. Nach „endlosen Suburbanisierungswellen“ (S. 70) würden jetzt Gentrifizierung und „Disneyfizierung“ einer „barbarischen Obdachlosigkeit“ und einer „für die Masse der Bevölkerung menschenunwürdigen städtischen Umwelt“ (S. 77) gegenüberstehen. Es wird sehr deutlich, dass der inzwischen fast 80-jährige David Harvey noch immer kämpferisch städtische Missstände in allen Städten der Welt anprangert. Bei seinen Betrachtungen setzt er an der „allgemeinen Theorie der Bewegungsgesetze des Kapitals“ an – Karl Marx ist im Übrigen der einzige deutschsprachige Autor, der sich in den Anmerkungen zur Literatur findet. In seinen weiteren Argumentationen wirft Harvey allerdings den reinen Marxisten vor, kein Verständnis für die Urbanisierungsprozesse und die Gestaltung der gebauten Umwelt auf­zubringen und betont immer wieder den engen Zusammenhang zwischen Urbanismus und Kapitalismus.

Es stellt sich recht bald die Frage, was der Leser jenseits der antikapitalistischen Argu­mentationslinien aus dem jüngsten Buch von David Harvey lernen kann. Einiges, so lautet meine Antwort und ein Durchhalten bei der Lektüre rentiert sich: So gibt David Harvey im zweiten Kapitel kluge Analysen der Finanzkrisen dieser Welt. In interessanter Weise verbindet er diese Krisen mit den vielfältigen Urbanisierungsprozessen auf der Welt. So sind es vor allem die Mechanismen der Immobilienmärkte mit ihrem „fiktiven Kapital“, die immer wieder zum Zusammenbruch der Finanzwelten geführt haben. Das Kreditsystem wird als eine wesentliche Ursache der umfassenden ökonomischen Krisen einzelner Staaten erkannt – dies gilt für die USA mit den zweifelhaften Praktiken der Vergabe von Hypotheken für den privaten Wohnungsbau. Dies gilt ebenso für China mit den immensen Staatsausgaben für den Bau von gigantischen Infrastruktureinrichtungen und riesigen, heute immer noch menschenleeren neuen Städten.

Im dritten Kapitel verfolgt Davis Harvey die Frage des Umgangs mit urbanen Gemeingütern. Seine Beschäftigung etwa mit dem Phänomen der öffentlichen Räume kann hierzu einige Anregungen für die deutsche Debatte zu diesem Thema bieten, die seit rund zehn Jahren intensiv geführt wird. Insbesondere die Frage der Steuerungsaktivitäten ist hier mit dem Rückgriff auf Elinor Ostroms polyzentrische Steuerungssysteme spannend. Harvey steht allerdings der Politik einer administrativen Dezentralisierung und einer Maximierung lokaler Autonomie recht kritisch gegenüber. Vielmehr fordert er sowohl einen starken Staat als auch die Selbstorganisation der Bürger, um die Qualitäten der Gemeingüter zu verbessern. Für fragwürdig hält Harvey beispielsweise den Bau des neuen „High-Line“-Parks in Manhattan, der in den deutschen Medien bisher eher positiv dargestellt wurde. Nach seiner Einschätzung werden die Preise für die angrenzenden Wohnimmobilien derart steigen, dass dieser neue öffentliche Raum in der Folge zukünftig nur noch den wohlhabenden Bewohnern der Nachbarschaft dienen wird. So werden die vielfältigen Aktivitäten zur Aufwertung von öffentlichen Räumen, die auch die deutschen Stadtentwickler zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Städten mit großem Engagement verfolgen, allgemein als eine „Tragödie der städtischen Gemeingüter“ (S. 145) gewertet. Die Menschen würden ihr interessantes und anregendes Alltagsleben an die „räuberischen Methoden der Immobilienunternehmer, Finanziers und einkommensstarken Konsumenten“ (S. 146) verlieren. Solche Vorwürfe sind starker Tobak, die einen konstruktiven Austausch mit diesen Akteuren der Stadtentwicklung erschweren.

Genau an dieser Stelle setzt deshalb auch meine Kritik an Harveys Gedankenwelten an. Sie vernachlässigen weitgehend das Handeln der an den Stadtentwicklungsprozessen beteiligten Akteure und unterstellen immer wieder aufs Neue, dass sich die aktuellen Prozesse den Interessen einer neoliberalen Stadtpolitik unterordnen. Die auf diese Weise angeklagten Immobilienunternehmen werden einseitig als die Bösen und die Bewohner der Nachbarschaften ebenso einseitig als die Guten dargestellt, ohne dass genauer und differenzierter auf ihr jeweiliges Handeln, ihre Einstellungen und ihre Werthaltungen eingegangen wird. Die Schwierigkeiten etwa, die sich aus NIMBY-Einstellungen derzeit für die Umsetzung von Infrastrukturprojekten ergeben, werden vollständig ignoriert. Gerade deshalb sind die Einblicke in die Gedanken der Entscheider von Stadtentwicklern in Deutschland, die sich mit solchen Fragen der Steuerung von Stadtentwicklung auseinandersetzen müssen, eine spannende Ergänzung zur Streitschrift von David Harvey. Nach meiner Einschätzung wird in dem Buch „Wir bauen Deutschland“ deutlich, dass der Planungsalltag – zumindest in Deutschland – wohl etwas differenzierter zu sehen ist als in einer Polarität von Kapital und Arbeit.

Im vierten Kapitel des Buches „Rebellische Städte“ stehen Monopolrenten im Zeitalter der Globalisierung im Zentrum seiner Ausführungen. Harvey setzt sich in diesem Kapitel mit den Eigenschaften spezifischer lokaler Situationen auseinander und erkennt sie als ein „Ergebnis diskursiver Konstruktionen“ (S. 185). In Form des Brandings von Städten wird dies heute vielfach eingesetzt, um sich im Kampf um die Anhäufung von Distinktionsmerkmalen zu behaupten (S. 190). Dies ist dann die einzige Stelle in dem gesamten Buch, an der Harvey ein deutsches Beispiel für seine Argumentationen heranzieht. Hier ist es der Berliner Architekturstreit nach der Wiedervereinigung Deutschlands, der auf Harveys Interesse stößt (S. 191ff). Allerdings wird diese Debatte nach meiner Einschätzung in einem etwas verzerrten Licht nachgezeichnet. So werden die Ideen und Leitvorstellungen der kritischen Rekonstruktion für die Berliner Mitte aus den 1990er Jahren in eine Nähe zu Albert Speers Umbauplänen im Nationalsozialismus gerückt und mit Leitvorstellungen von „nationalistischen und romantischen Konnotationen“ verbunden, die den Zielvorstellungen einer Renaissance der Mitte in der Zeit nach der Wiedervereinigung nicht gerecht werden. Ein nachmoderner Städtebau unter Berücksichtigung von strukturellen Merkmalen der „traditionellen Stadt“ ist nicht nur in Berlin, sondern auch in weiten Teilen Deutschlands und Europas ein gesellschaftlicher Konsens, der nicht allein auf die Interessen des Kapitals zurückzuführen ist. Harveys Aussage, „dass das Kapital seine Wege findet, aus lokalen Unterschieden, kulturellen Abweichungen und ästhetischen Bedeutungen Profit zu schlagen, unabhängig davon, welchen Ursprungs sie sind“ (S. 195), trifft die europäische Situation nach meiner Einschätzung nur teilweise.

Im fünften Kapitel geht es David Harvey schließlich darum, die Städte für den antikapitalistischen Kampf zurückzuerobern. Hier stellt er das Urbane als wichtigen Schauplatz für politisches Handeln und für Rebellion heraus (S. 207). Nicht mehr die Arbeiter in den Fabriken seien die Vorreiter, um das Klassenverhältnis zwischen Kapital und Arbeit abzuschaffen, sondern die urbanen sozialen Bewegungen seien die neuen Hoffnungsträger im Kampf gegen den fortgeschrittenen Kapitalismus. Bauarbeiter oder Transportarbeiter in den Vereinigten Staaten könnten dabei eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Bergarbeiter in Bolivien oder die Lehrer in Mexiko. Die Produktion und Reproduktion des urbanen Lebens werden als Schlüsselgrößen identifiziert, die Geschichte der konventionellen Arbeitskämpfe neu zu schreiben. Die Frage, wie man eine Stadt organisiert, scheint Harvey deshalb eine zentrale Frage im Hinblick darauf zu sein, den antikapitalistischen Kampf der nächsten Jahre zu organisieren. Das „Recht auf Stadt“ wird in diesem Zusammenhang zu einer zentralen Parole des antikapitalistischen Kampfes (S. 237).

Für den europäischen Kontext übersieht Harvey bei solchen Überlegungen aber, dass es auf allen staatlichen Ebenen seit langem eine umfassende und integrative Städtebaupolitik gibt, die nicht nur rein ökonomische Interessen verfolgt, sondern auch eine sozialpolitische Perspektive hat. Die deutsche Städtebauförderung der vergangenen Jahrzehnte sei hier nur exemplarisch für eine solche Politik genannt, die in Deutschland auf allen staatlichen Ebenen verankert ist. Die beiden ebenfalls in der Reihe „edition suhrkamp“ erschienenen Bücher der Stadtsoziologen Hartmut Häußermann, Dieter Läpple und Walter Siebel zeigen diese Traditionen der europäischen Stadtpolitik eindrucksvoll, ohne sie zu verklären oder gar zu verherrlichen. Sehr wohl wird hier auch reflektiert, dass sich die aktuellen Veränderungen des Wohlfahrtsstaates auch in Europa auf Stadtentwicklungsprozesse negativ auswirken (Häußermann/Läpple/Siebel 2008; Siebel 2004).

Im zweiten Buch „Wir bauen Deutschland“ spielt der antikapitalistische Kampf auf den Straßen unsere Städte keine Rolle. Vielmehr vermitteln hier 40 Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen 40 deutschen Städten ihre jeweils eigenen Vorstellungen von Stadtentwicklung. Im Gegensatz zu David Harvey bereiten sie jeden Tag als Stadtplaner und Stadtentwickler Entscheidungen in diesem Politikfeld vor, fällen auch selbst Entscheidungen und müssen diese dann in der Stadtöffentlichkeit vertreten. Durch die Fragen der beiden Interviewer können die 40 Entscheider auf jeweils vier Seiten ihre eigenen Visionen und Vorstellungen zum Planen und Bauen in deutschen Städten entfalten und dabei den Stellenwert ihrer Arbeit in der Stadtgesellschaft erläutern. Mit einem gewissen Stolz wird der Einsatz von langfristig orientierten Masterplänen oder die Festschreibung von Mischungsverhältnissen beim Wohnen und Arbeiten geschildert. Hier gibt es sicherlich Unterschiede zwischen den wachsenden und den eher schrumpfenden Städten bei den Möglichkeiten, solche Zielvorstellungen umzusetzen, doch davon ist in diesem Buch nicht die Rede. Hier hätten die Interviewer schärfer nachfragen können.

Sicherlich findet sich in den Interviews auch Selbstkritisches – etwa die Dauer von Planungsprozessen oder die Schwierigkeiten, bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen – , doch im Wesentlichen sind die Interviews von einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein der Interviewpartner und ihrer festen Überzeugung geprägt, Städte auch gestalten zu können. Die privaten Investoren spielen in allen Interviews keine wesentliche Rolle. Über die schwierigen Verhandlungen mit ihnen und über die jeweiligen Machtverhältnisse in den Städten wird in den Interviews kaum etwas ausgesagt. Vielmehr wird Bürgerbeteiligung von allen Entscheidern als eine Selbstverständlichkeit gesehen. Hier darf die Frage erlaubt sein, warum es bei einigen dringend erforderlichen Projekten zum Planungsstillstand kommt und welche Rolle die zunehmende Eigensinnigkeit mancher Bürger bei der Umsetzung der Zielvorstellungen spielt, die im öffentlichen Interesse liegen.

Die Themen, mit denen sich die deutschen Stadtentwickler alltäglich auseinander­setzen, sind vielfältig und gehen weit über die Fragen hinaus, die David Harvey in seinem Buch thematisiert. Die kommunale Verkehrspolitik taucht in fast allen Interviews als ein schwieriges Tätigkeitsfeld auf, in dem einschneidende Veränderungen in der Zukunft erforderlich sind. Verlagerungen im Modal Split werden mehr oder weniger offen als Ziel formuliert, ohne das jedoch klar wird, wie Verhaltensänderungen bei den Verkehrsteilnehmern erreicht werden können. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Klimaschutz, der ein weiteres aktuelles Handlungsfeld in der kommunalen Stadtentwicklung ist. Schließlich wird der demographische Wandel Wohnungsmärkte verändern und Auswirkungen auf den Bildungssektor haben. Außerdem werden neue Einkaufszentren den bestehenden Einzelhandel in den klassischen Innenstädten unter Druck setzen und die Rolle der öffentlichen Räume beeinflussen. Anders als in dem Buch der rebellischen Städte wird in dem Buch „Wir bauen Deutschland“ deutlich, welche enorme politische Bedeutung die Alltagsarbeit eines Stadtplaners auf der lokalen Ebene hat.

Beim Studieren der beiden so unterschiedlich aufgemachten Bücher mit ihren ungleichen Textformen ergibt sich für mich folgendes Resümee: Harveys Werk „Rebellische Städte“ ist stellenweise essayistisch mit einem Blick auf die Städte in der gesamten Welt geschrieben und verfolgt konsequent den Anspruch, Stadtentwicklungsprozesse umfassend aus einer neomarxistischen Sicht zu interpretieren. Hingegen ist „Wir bauen Deutschland“ ganz eindeutig nur auf dieses Land bezogen und hat den Anspruch, die Einstellungen der kommunalen Stadtplaner und Stadtentwickler kaleidoskopartig aufzuzeigen. Und doch geht es in beiden Büchern als eine Gemeinsamkeit um die Gestaltungsmöglichkeiten unserer Städte. Bei David Harvey sind es die Funktionsweisen des Kapitalismus und der neoliberalen Stadtpolitik, die die Stadtentwicklungsprozesse weltweit steuern und die zu den unzureichenden Lebensbedingungen in allen Städten dieser Welt führen: in den Favelas von Rio de Janeiro ebenso wie in den heruntergekommenen Suburbs von Detroit. Harvey setzt seine Hoffnung auf die Widerstandsfähigkeit des Proletariats, sich gegen die Kräfte des Kapitalismus zur Wehr zu setzen, um zu einer besseren Stadtgesellschaft zu kommen. Ansatzpunkte für solche antikapitalistischen Klassenkämpfe entdeckt er in der Bergarbeiterstadt El Alto in Bolivien, in der es den Arbeitern in den vergangenen Jahren gelungen ist, sich aufzulehnen und die lokalen Verhältnisse zu ändern. Aus einer anthropologischen Studie von Sian Lazar zu dieser Rebellion stammt übrigens auch der Titel seines Buches. Anknüpfungsmöglichkeiten für solche Rebellionen erkennt er auch in den Protesten der Globalisierungsgegner beim G8-Gipfel in Genua oder jüngst der „Occupy Wall Street“-Bewegung mit der Besetzung des Zucotti Parks in New York in den postindustriellen Gesellschaften – um nur zwei von vielen Beispielen zu nennen, die Harvey aufführt.

Von diesen Ansatzpunkten für Klassenkämpfe sind die 40 deutschen Stadtplaner, die in dem zweiten Buch „Wir bauen Deutschland“ porträtiert werden, jedoch weit entfernt. Ihnen geht es um die Gestaltung der Städte im vorhandenen System der bundesdeutschen Planungspolitik. Und dies – so zeigen viele der Personen schon bei den fotographischen Porträts durch ihre Körpersprache – ist eine Aufgabe, der sie sich selbstbewusst und erfolg­reich stellen. Sie setzen auf die Steuerung der gebauten Umwelt, auf die Einführung neuer umweltverträglicher Verkehrssysteme, auf die Programme der sozialen Stadt, um Segregation zu vermeiden und Gentrifizierung zu verhindern. Eine kritische Sicht auf ihre Arbeit ist sicherlich angebracht. Ihre engagierte Tätigkeit dabei aber vollständig zu vernachlässigen, wie es David Harvey weitgehend tut, scheint mir für die deutschen und auch die europäischen Verhältnisse nicht richtig. An dieser Stelle mangelt es den Neomarxisten an Ge­spür für die komplexen Aushandlungen zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bei der Gestaltung der Städte. Die Stadtplaner hingegen haben die diffizilen Prozesse in­nerhalb der Finanzwelt zu wenig im Blick, die David Harvey als eine wesentliche Ursache für die Fehlentwicklungen in den Städten identifiziert. So könnte für die deutschen Planer das Buch von David Harvey aufschlussreich sein, und den Anhängern einer neo­marxistischen Sichtweise wäre zu empfehlen, sich intensiver mit der Realität der Aus­handlungsprozesse von Stadtentwicklungsprozessen auseinanderzusetzen.

Literatur
Häußermann, Hartmut, Läpple, Dieter. und Siebel, Walter: Stadtpolitik. Frankfurt am Main 2008 (= edition suhrkamp 2512). Siebel, Walter: Die europäische Stadt. Frankfurt am Main 2004 (= edition suhrkamp 2323).

Quelle: geographische revue, 15. Jahrgang, 2013, Heft 2, S. 89-95

 

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