geographische revue

Geographie und Moral

Nach dem "cultural turn" nun der "moral turn"? Das Schwerpunktthema der neuen Ausgabe der geographischen revue (1/2010) geht der Frage nach, wie auf verschiedenen Maßstabsebenen Raumeinheiten und räumliche Distanzen von gesellschaftlichen Akteuren bewertet werden und wie darauf die Geographie reagiert oder reagieren sollte.



Ulrich Ermann, Marc Redepenning
Gute Räume – schlechte Räume? Zum Verhältnis von Moral und Raum in der Geographie

Bettina Bruns, Helga Zichner
Moral an der Grenze? Theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur Moral im Alltag an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union

Karsten Gäbler
Moralischer Konsum und das Paradigma der Gabe


Martin Sondermann
Nietzsche, Helbrecht, Sinn und Unsinn. Eine Erwiderung auf die Frage nach dem Wohin von
Wissenschaft, Bildung und Öffentlichkeit


Rezensionen

Hannes Hofbauer: EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen. Wien 2007. (Christian Weitzel)

Antwort vom Autor Hannes Hofbauer auf die Rezension

Thomas Etzemüller: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2007. (Peter Dirksmeier)

Katrin Grossmann: Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz. Bielefeld 2007. (Jan Glatter)

Susanne Heeg: Von Stadtplanung und Immobilienwirtschaft – Die „South Boston Waterfront“ als Beispiel für eine neue Strategie städtischer Baupolitik. Bielefeld 2008. (Anne Vogelpohl)

Jörg Scheffer: Den Kulturen Raum geben. Das Konzept selektiver Kulturräume am Beispiel des deutsch-tschechisch-österreichischen Dreiländerecks. Passau 2007. (Wolfgang Aschauer)




Zum Aufsatz "Gute Räume – schlechte Räume? Zum Verhältnis von Moral und Raum in der Geographie" von Ulrich Ermann und Marc Redepenning


Mehr und mehr rückt die Durchdringung des gesellschaftlichen Alltags mit Moralisierungen in den Fokus wissenschaftlicher und damit auch geographischer Aufmerksamkeit: Durch moralisch aufgeladene Begriffe wie Menschenwürde, Umweltschutz, Gerechtigkeit oder Sicherheit werden nicht nur gesellschaftliche Akteure und Organisationen, sondern auch deren räumliche Organisation und nicht zuletzt Orte und Räume selbst als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ qualifiziert. Trotz der wachsenden Anzahl an geographischen Arbeiten in diesem Bereich fehlt es bislang an einer Systematisierung dieser Bemühungen. In ihrem Aufsatz versuchen Ulrich Ermann und Marc Redepenning, einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten. Dazu unterziehen sie erstens das Verhältnis von Raum und Moral bzw. von Regionalisierungen und Moralisierungen einer kritischen Sichtung. Mit Konzentration auf die Entwicklung des Fachs seit den 1960er Jahren werden einflussreiche geographische Paradigmen (u.a.. radical und humanistic geography) auf die in ihnen enthaltene Figuration des Verhältnisses von Raum und Moral beschrieben. Darüber hinaus werden Arbeiten vorgestellt, die sich unter der Bezeichnung von moral geographies um eine explizite Klärung des Verhältnisses bemüht (David Smith) bzw. geographische Theorien der Moral (Robert Sack) aufgestellt haben. Ferner wird kritisch auf den inflatorischen Gebrauch des Ausdrucks ‚Moral‘ in jüngeren geographischen Arbeiten und auf daraus entstehende Folgen für die Tiefenschärfe geographischen Arbeitens hingewiesen.
Zweitens schlagen die Autoren eine Systematisierung der zuvor diskutierten Verwendungszusammenhänge von Moral und Raum vor. Diese Systematisierung wird entlang drei unterschiedlicher Leitdifferenzen vorgenommen:
·    deskriptiv/normativ
·    universalistisch/partikularistisch
·    explizit/implizit
Diese Systematisierung soll eine stärkere Reflexion des Verhältnisses von Moral und Raum ermöglichen und einen Diskussionsanreiz für weitere Beiträge zum Verhältnis von Raum und Moral bieten.



Zum Aufsatz „Moral an der Grenze? Theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur Moral an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union“ von Bettina Bruns und Helga Zichner


Bettina Bruns und Helga Zichner rekonstruieren in ihrem Aufsatz den Zusammenhang zwischen Grenzen und Moral. Ausgehend von empirischen qualitativen Erhebungen in Form von Gruppendiskussionen mit Unternehmern und Kleinhändlern sowie Interviews mit Grenzautoritäten an vier Abschnitten der östlichen Außengrenze der Europäischen Union untersuchen sie, welche Auswirkungen die zunehmende Homogenisierung des Grenzregimes auf ökonomische grenzüberschreitende Praktiken wie Kleinhandel und produzierendes Gewerbe hat. Dabei zeigen sie, dass die Funktionsweise der Grenze von den spezifischen Moralvorstellungen derer abhängt, die in ihrem Alltag mit der Grenze zu tun haben, denn Grenzen sind aus moraltheoretischer Sicht Orte, an denen Moralvorstellungen mit lokal begrenzten und solche mit weiter reichenden Geltungsansprüchen zusammentreffen. Bei der erstgenannten Auffassung wird Moral mit Walzer als „thick morality“ bezeichnet: Sie ist kontextabhängig und wird aus den Überzeugungen der jeweiligen Individuen darüber, was gut und richtig ist, sozial konstruiert. Die Nahverpflichtung der Individuen wird über seine Fernverpflichtung gestellt. Auf Grundlage dieser „dicken“ Moral kann sich eine „thin morality“ entwickeln, die stärker auf allgemeingültigen Gesetzen beruht. Aufgrund dieses Wechselspiels verwenden die Autorinnen in ihrem Beitrag Moral als grundsätzlich kontextabhängige soziale Konstruktion dessen, was Menschen als gut und richtig erachten. Diese subjektive Moral wird jedoch als innerhalb des Wirkungsfeldes einer „thin morality“ gesehen und von ihr beeinflusst.
Dieses sich im vorgestellten Moralkonzept widerspiegelnde Wechselspiel unterschiedlicher Formen von Moral auf das Geschehen an Grenzen wird im Artikel anhand empirischer Beispiele von der polnisch-belarussischen, der polnisch-ukrainischen und der rumänisch-ukrainischen Grenze dargelegt. Als Fazit lässt sich festhalten, dass Grenzen Orte von Moralproduktionen sind. Die Funktionsweise der EU-Außengrenze hat notwendigerweise einen moralischen Hintergrund, denn sowohl dicke als auch dünne Moralvorstellungen basieren auf dem, was Menschen als gut und richtig erachten. Diesen Überzeugungen zugrunde liegen letztlich sowohl die Gesetze des Grenzregimes als auch die Normen und Gebräuche derer, die diese Gesetze umsetzen und mit ihnen im Alltag konfrontiert sind.



Zum Aufsatz "Moralischer Konsum und das Paradigma der Gabe" von Karsten Gäbler


In der jüngeren Debatte um die moralische Dimension konsumtiver Praktiken ist häufig eine Gegenüberstellung ökonomischer und „moralisch“ genannter Aspekte zu beobachten. Konsumenten handelten demzufolge entweder am eigenen Nutzen oder am Gemeinwohl orientiert. Der Beitrag präsentiert die Idee, dass diese antagonistisch dargestellten Handlungsorientierungen in der Praxis vielmehr oft kopräsent sind und eine starre Dichotomisierung von Ökonomie und Moral die praktische Multidimensionalität des Konsumentenhandelns außer Acht lässt. Mit dem in den französischen Sozialwissenschaften etablierten und von der deutschsprachigen Soziologie neuerdings verstärkt diskutierten Paradigma der Gabe wird eine Handlungstheorie vorgestellt, welche die Spannung zwischen Interessefreiheit und Kalkül thematisiert und Kategorien anbietet, die pluralen Motivationen des Handelns begrifflich zu fassen.
Zu Beginn wird dargelegt, wie der moralische, „grüne“ Konsum der LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) ins Fadenkreuz einer Kritik gerät, die den offen zur Schau gestellten Hedonismus dieser Lebensstile als Indikator einer mangelnden Ernsthaftigkeit ökologischer Motive interpretiert. Konsumgenuss und die Sorge um die Umwelt seien nach dieser Kritik kontradiktorisch, der neue „Ökokonsum“ diene hauptsächlich der Distinktion.
Im Anschluss wird das Konzept der anti-utilitaristischen Theoretiker der Gabe (mouvement anti-utilitariste dans les sciences sociales) vorgestellt, welches, ausgehend von den alltäglichen Praktiken des Gebens, Annehmens und Erwiderns, ein Oszillieren des Handelns zwischen den Polen des Interesses und des Vergnügens sowie der Verpflichtung und der Freiheit proponiert. Analog zur Gabe wird versucht, moralischen Konsum als symbolischen Akt zu beschreiben, der einerseits freiwillig erfolgen muss, andererseits einer (verpflichtenden) gesellschaftlichen Erwartungshaltung folgt.
Im abschließenden Teil wird das Konzept der Gabe im Sinne eines weiter zu entwickelnden Analyseansatzes auf eine konkrete, moralisch aufgeladene Konsumpraxis angewendet: die in zahlreichen Kontexten als „moderner Ablasshandel“ kritisierte freiwillige Kompensation von Treibhausgasemissionen. Anhand der gabentheoretischen Kategorien wird versucht, die Konfliktlinien der moralisierenden Debatte um Emissionskompensation zu benennen und das heuristische Potential des Gabenparadigmas zu illustrieren.


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