Tobias ten Brink: Chinas Kapitalismus. Entstehung, Verlauf, Paradoxien. Frankfurt am Main, New York (Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln, Band 78) 2013. 372 S.

Tobias ten Brink hat eine höchstgradig interessante und fundierte Studie vorgelegt, in der er die „kapitalistische Entwicklung“ Chinas in vier Kapiteln nach­ und aufzeichnet. In der dem ersten Kapitel vorangehenden Einleitung konstatiert er, dass der chinesische Entwicklungsprozess den „weltweit erfolg­ und folgenreichsten Fall einer nachholenden Entwicklung“ darstelle (13). Davon ausgehend interessieren ihn drei Fragen: (a) der Charakter des chinesischen „Gebildes“, (b) die Kräfte, die diese Dynamik bewirkt haben, (c) die Folgen dieses Prozesses (13).

Die vorhandene Chinaliteratur habe bis heute keine Antworten auf diese Fragen geben können. Mit Hilfe einer „erweiterten Kapitalismusanalyse“ will der Autor diese Fragen beantworten. Dabei möchte er sich nicht nur auf die vorhandene sozialwissenschaftliche Chinaliteratur stützen, sondern auch auf Ansätze der Vergleichenden Politischen Ökonomie, auf politikwissenschaftliche Instrumentarien zur Untersuchung von Wandlungsprozessen, Ansätze aus der internationalen Politischen Ökonomie sowie der Historischen Soziologie. Um die Arbeit operationabel zu halten, konzentriert er sich auf drei Akteure, die die Entwicklung wesentlich geprägt haben:Unternehmen, staatliche Akteure und die Arbeiterschaft.

Der Autor geht in seiner Untersuchung von zwei allgemeinen Annahmen aus: (a) Der Kapitalismus als eine „umfassende soziale Ordnung“ habe in verschiedenen Weltregionen multiple Wege in die Moderne einschneidend strukturiert (22). (b) Da die globalen Triebkräfte des Kapitalismus auf jeweils landes­ und regionenspezifische Bedingungen träfen, müssten nicht­ökonomische Institutionen und Traditionen in die Untersuchung der jeweiligen Kapitalismusvarianten einbezogen werden (22). Als chinesisches Spezifikum macht er beispielsweise die Interaktion von Staat und Wirtschaft aus, von der spezifische „Mechanismen und Strategien der staatlichen Intervention und Regulierung im chinesischen Mehrebenengeflecht“ ausgehen (23).

In der Einleitung formuliert er zugleich seine zentralen Thesen: (a) Die gegenwärtige Entwicklung Chinas beruhe primär auf allgemeinen kapitalistischen Triebkräften mit „chinesischen Besonderheiten“, wodurch eine „neuartige Form des Kapitalismus“ entstanden sei. Aufgrund der besonderen Rolle des Staates müsse zum Beispiel die „Bedeutung kapitalistischer Triebkräfte im privat­öffentlichen Mehrebenensystem“ Chinas berücksichtigt werden. (b) Mit der Einleitung der Reformpolitik Ende der 1970er Jahre sei kein „Bruch mit der Vergangenheit“ vollzogen, sondern ein „tiefgreifender Umstrukturierungsprozess“ begonnen worden. In die Erklärung der Dynamik müsse zugleich die Rolle „weltwirtschaftlicher Konstellationen“ einbezogen werden sowie Spezifika der chinesischen Entwicklung (u. a. weitgehende Elitenkontinuität, institutionelle Lernkapazität). (c) Die Funktions­ und Steuerungsfähigkeit des Systems dürfe nicht überschätzt werden. Von daher seien auch Grenzen und Destabilisierungsfaktoren (wie z. B. fehlende Konfliktlösungsstrategien) zu analysieren und herauszuarbeiten.

Das erste Kapitel befasst sich dann mit der Erarbeitung eines Forschungsrahmens auf der Grundlage des Forschungsstandes zur Politischen Ökonomie im Allgemeinen als auch auf China bezogen. Um seine These zu operationalisieren, dass die „Politische Ökonomie Chinas“ nur im Kontext einer „weit gefassten Kapitalismusanalyse plausibel gefasst“ werden könne, legt der Autor fünf zu untersuchende Felder fest: ökonomische Konkurrenzverhältnisse (zwischen Unternehmen) und Krisendynamiken;kapitalistische Arbeitsbeziehungen; das Finanz­ und Fiskalsystem; das Interaktionsverhältnis Staat – Wirtschaft; und schließlich die Einbettung Politischer Ökonomien in weltwirtschaftliche Zusammenhänge.

Im zweiten Kapitel befasst sich der Autor mit der „kapitalistischen Modernisierung“ Chinas von der Mao­Ära (hinsichtlich dieser Phase spricht er von „Proto­Kapitalismus“, wobei die Begründung für diese Kennzeichnung nicht wirklich deutlich wird), über die verschiedenen Phasen des Reformprozesses seit den späten1970er Jahren bis in die Gegenwart. In der Entstehung eines neuen (Privat­)Unternehmertums, der proaktiven Rolle des Zentralstaates und dem Auftreten einer differenzierten Arbeiterschaft erkennt er „kapitalistische Triebkräfte“. Während das für das Auftreten eines neuen Privatunternehmertums noch eine gewisse Berechtigung haben mag, ist es fraglich, ob staatliche Akteure im ganzen Land tatsächlich „kapitalistische Unternehmerfähigkeiten“ entwickeln. Und was den Staat anbelangt, vor allem auch den lokalen, so spielt eine planmäßige Steuerungsfunktionim Hinblick auf die Wirtschaftsunternehmen nach wie vor eine zentrale Rolle. In Bezug auf die Rolle der Arbeiterschaft erkennt der Autor zumindest an, dass diese im Hinblick auf den Reformprozess bislang keinen wirklichen Einfluss auszuüben vermochte. Unternehmer und Arbeiterschaft befinden sich noch in einem Übergangs­ und Entwicklungsprozess und unterteilen sich in ganz unterschiedliche und deutlich voneinander abgehobene Akteursgruppen (u.a. von Clanbetrieben in ärmeren Regionen bis hin zu modernen, international orientierten Unternehmen in den Küstenregionen; die Arbeiterschaft wiederum reicht von Clanangehörigen über Wanderarbeiter bis hin zu modernen Facharbeitern, mit unterschiedlichen Zielen und Interessen). Ausdruck dieses Übergangs­und Entwicklungsprozesses ist auch, dass nur eingeringer Anteil der Privatunternehmen, die seit den frühen 1990er Jahren gegründet wurden, heute noch existieren. Besonders wichtig ist die Analyse des Autors im Hinblick auf Chinas Integration in den Weltmarkt, ohne die sich die Dynamik der chinesischen Entwicklung nicht ausreichend erklären lässt.

Das dritte Kapitel befasst sich mit den „Entwicklungslinien des chinesischen Kapitalismus“, der Unternehmensorganisation und den gesamtwirtschaftlichen Dynamiken, der Rolle des „heterogenen Parteistaates“ sowie dem Wandel der industriellen Arbeitsbeziehungen. Während die Unternehmensentwicklung einerseits zu gesellschaftlicher Kohärenz beitrug,erzeugte sie zugleich Faktoren der Destabilisierung (u. a. Exportabhängigkeit, Nachfragedefizite auf dem Binnenmarkt, Überinvesitionen). Der Staat wiederum besitzt einen hohen Grad an Steuerungskapazität (u.a. auch im Hinblick auf die Märkte). Zu Recht konstatiert der Autor eine „Ausdifferenzierung zwischen staatlichem und marktlichem Handeln“ (279). Im Hinblick auf die Arbeitsbeziehungen stellt der Autor einen „fragmentierten, unvollständigen Korporatismus“ zwischen dem Staat, den Gewerkschaften, Arbeitgebern und ­nehmern fest, der die Institutionalisierung von Konflikten erschwere und das bestehende Arbeitsrecht ineffizient erscheinen lasse (309), da der Zentralstaat trotz aller Versuche eines Interessenausgleichs letztlich die ökonomischen Konkurrenzvorteile (Niedriglohnproduktion) aufrechterhalten wolle. Dies gelinge noch, weil die Arbeiterschaft derzeit keine rebellierende Kraft darstelle.

Das abschließende vierte Kapitel fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Einerseits findet der Autor seine These einer kapitalistischen Entwicklung bestätigt, andererseits weist diese Entwicklung Besonderheiten auf, die er als „Paradoxien“ bezeichnet. Damit meint er die Widersprüche im Entwicklungsprozess, die Grenzender staatlichen Steuerung und die „Subordination“ der Arbeiterschaft im kapitalistischen Modernisierungsprozess. Darüber hinaus erläuterter die Implikationen seiner Studie für die allgemeine Kapitalismus­ und die Chinaforschung. Am Ende weist er auf die Gefahr hin, dass das „chinesische Modell“ eines „Kapitalismus ohne Demokratie“ international an Einfluss gewinnen könne. Allerdings bezweifelt er selbst eine solche Entwicklung, weil sich ein solches „Wunder“ wohl kaum wiederholen lasse und gewiss auch nicht von Dauer sei.

Der Autor hat eine ausgesprochen fundierte und differenzierte Studie vorgelegt. Es handelt sich um einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung der globalen Vielfalt der Kapitalismen, auch wenn zentrale Felder wie Eigentums­ und Klassenverhältnisse oder die Rolle des Überbaus nicht einbezogen wurden und der Autor sich nicht klar äußert, um welchen Typ von Kapitalismus es sich handelt (Staatskapitalismus, corporate capitalism, eine hybride Form oder etwas ganz Neues). An der Qualität seiner Studie ändert dies nichts. Obwohl er sich selbst nicht als „Chinaspezialist“ versteht und aufgrund fehlender Sprachkenntnisse die chinesische Debatte über das Themenfeld nicht in seine Analyse einbeziehen konnte, hat er mit feinem Gespür die Entwicklungen in China vielfach detailgetreu nachgezeichnet. Ohne Zweifel handelt es sich um ein allgemeines Grundlagenwerk, das für jeden sozialwissenschaftlichen Chinawissenschaftler, aber auch für Forscher in den Bereichen Kapitalismus­ und Entwicklungsforschung sowie der international vergleichenden Forschung zur Politischen Ökonomie ein absolutes Muss darstellt.

In der Chinawissenschaft selbst hat die Untersuchung der chinesischen Politischen Ökonomie unter dem Aspekt der „Kapitalismusforschung“ bislang nur wenige Anhänger gefunden. Dies mag unter anderem daran liegen, dass sozialwissenschaftliche Chinaforscher vielfach der Meinung sind, dass nicht der Regimetyp entscheidend sei, sondern der Charakter des Staates sowie die Interaktion Staat – Gesellschaft – Wirtschaft. Die Zuordnung von „Kapitalismus“ beinhaltet stets auch einen normativen Aspekt (den der Ausbeutung, politischer Unterdrückung und Demokratieforderung), und viele Chinawissenschaftler scheuen sich, das hybride chinesische Gebilde, das sich in einem kontinuierlichen Wandlungs­ und Übergangsprozess befindet, schon als einen solchen „Kapitalismus“ zu definieren. Fraglich ist auch, ob es ausreicht, die Rolle der Unternehmen, des Staates und der Arbeiterschaft zu untersuchen, um „Kapitalismus“ zu konstatieren. So verwundert der alleinige Bezug auf die soziale Gruppe der Arbeiterschaft, zumal die bäuerliche (ländliche) Bevölkerung, von der der Reformprozess seit Ende der 1970er Jahre seinen Ausgangspunkt nahm und die noch immer das Gros der Bevölkerung ausmacht, ohne weitere Begründung von der Analyse ausgeklammert wurde. Die Bauernschaft (Landbevölkerung) ist und war seit Gründung der Volksrepublik stets Hauptträgerin von Protesten und Umbrüchen, und das ist sie bis heute weitgehend geblieben, auch wenn sie sich mittlerweile zunehmend differenziert und fragmentiert. Auch die Rolle des chinesischen „Bottom­up­Kapitalismus“, das heißt die spontane Wiederentstehung einer privaten Unternehmerschaft seit Ende der 1970er Jahre bleibt in der Studie unterbeleuchtet. Wie konnten sich kleine haushaltsbasierte Produktionsstätten trotz staatlicher Beschränkungen eigentlich zu modernen kapitalistischen Betrieben entwickeln, und weshalb hat der Parteistaat diese Entwicklung letztlich unterstützt und gefördert? Und fußt das Modernisierungsvorhaben der Elite nicht primär auch auf der seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden Einsicht, dass die Modernisierung Chinas und damit seine nationale Renaissance nur durch eine entschlossene Elite zu bewerkstelligen ist, die gestützt auf ein autoritäres Staatswesen und ein planmäßiges Programm Modernisierung gegen alle partikularen Widerstände in der Gesellschaft durchzusetzen hat?

Mehrfach erwähnt der Autor den Begriff des „Entwicklungsstaates“ (developmental state). Meines Erachtens trifft eine solche Kennzeichnung des gegenwärtigen „Gebildes“ China die Realität besser als die begriffliche Zuweisung „Kapitalismus“, da dieser Ansatz eine Reihe zusätzlicher Fragen besser beantworten könnte. Der Entwicklungsstaat existiert nicht nur auf der zentralen, sondern auch auf der lokalen Ebene. Bei Entwicklungsstaaten handelt es sich um „zweckorientierte“ Staaten. Sie zeichnen sich aus durch die Übereinstimmung der politischen Elite im Hinblick auf nationale Ziele, Neutralität gegenüber Partikularinteressen gesellschaftlicher Interessengruppen, den Willen, das Land „top­down“ und mit Hilfe von Entwicklungsplänen (statt über Marktkräfte) zu entwickeln sowie die Existenz einer „Pilotorganisation“. Eine effektive Bürokratie steht zudem in enger Beziehung zum Privatsektor, die in diesen interveniert, ihn anleitet, aber nicht ersetzt. Die Auswahl der ökonomischen Bürokratie erfolgt durch ein striktes kompetitives Auswahl­ und Prüfungsverfahren, die Effektivität wird durch ein Anreiz­, Evaluierungs­ und kontinuierliches Fortbildungssystem sichergestellt. Zugleich verfügen diese Eliten über die Kapazität, diese Ziele ökonomisch, politisch und gesellschaftlich erfolgreich zu forcieren, auch gegen partikularistische Widerstände aus der Gesellschaft. Sie weisen von daher ein hohes Maß an Staatskapazität auf sowie ein relatives Maß an politischer Stabilität und Legitimität.

Eine solche Zuweisung wird dem gegenwärtigen „Gebilde“ und der Herausarbeitung der Dynamiken und Antriebskräfte (z.B. unter den Eliten) besser gerecht. Zweifellos hat die vorliegende Studie aus der Perspektive der internationalen Kapitalismusforschung ihre absolute Berechtigung, auch wenn der Philosoph Hu Shi schon 1919 darauf hingewiesen hat, dass man sich im Hinblick auf Chinas Entwicklung mehr mit den Problemen beschäftigen und weniger über „ismen“ diskutieren solle. Allerdings, so sei abschließend noch einmal betont, ändern diese kritischen Anmerkungen nichts am wegweisenden Charakter dieses Buches.

Thomas Heberer, Duisburg, ­Essen

Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg.58 (2014) Heft 1, S. 69-72